
Mir geht es gut, wirklich. Die Therapie dauerte fast ein halbes Jahr und es half, dass ich in einer Einrichtung untergebracht war, weg von meiner Wohnung. Raus aus allem was mich runterzog.
Ich atme die noch kühle Luft des frühen Morgens ein. Dabei sitze ich auf einer Bank und schaue über den Talkessel zu dem gegenüberliegenden Waldrand. Hinter den ersten zartgrün austreibenden Bäumen erhebt sich die Sonne. Tiefes Orange erleuchtet den Himmel. Es ist nur eine Farbe.
Als das Farbenspiel am Himmel der intensiven Helligkeit des Tages weicht, erhebe ich mich und gehe auf meine Station zurück. Meine Sachen sind schon seit gestern gepackt und ich warte in meinem Zimmer, bis ich zur Entlassung gerufen werde.
„Herr Mertens, kommen Sie bitte? Lassen sie Ihre Sachen ruhig noch hier stehen.“
Ich folge der Schwester, die mich zu der Therapeutin bringt. Sie klopft an der Tür des Behandlungszimmer, welches ich in dem halben Jahr so oft besucht habe.
„Frau Dr. Volmer? Herr Mertens ist hier.“
„Herr Mertens, heute ist es also soweit. Wie geht es Ihnen?“
„Gut, danke.“
„Besprochen haben wir alles, mir bleibt nur Ihnen viel Erfolg zu wünschen. Sollten Sie das Bedürfnis verspüren, rufen Sie mich an, jederzeit.“
„Frau Doktor, ich danke Ihnen für die Hilfe und die Unterstützung, die ich hier erfahren habe. Ich denke, diesmal bin ich gut vorbereitet.“
Wir sehen einander in die Augen, eine Zeitlang.
„Ja, sind Sie. Das schaffen Sie. Einige Kleinigkeiten noch. Sie gehen dreimal die Woche zu Ihrem Therapeuten. Nach vier Wochen beurteilen wir die Notwendigkeit erneut.“
Sie sucht meine Bestätigung, ich nicke.
„Sie nehmen Ihre Medikamente. Für den Notfall haben Sie meine Nummer.“
Wieder eine Kunstpause. Ich nicke erneut.
„Wissen Sie, wie Sie zurück nach Hause kommen?“
„Ich rufe mir ein Taxi zum Bahnhof, ich komme schon klar.“
„Natürlich. Leben Sie wohl, Herr Mertens.“
„Leben Sie wohl Frau Doktor.“
Sie schaut mir nach. Ich kann es fühlen, obwohl ich ihr den Rücken zugedreht habe.
Der Zug wird die Feuerprobe für mich. Das weiß sie und das weiß ich. Noch bevor ich die Anstaltstür erreicht habe, habe ich mir das Taxi bestellt.
*
Sie lächelt mich an. Gar nicht schlecht, für einen Psycho. Also lächele ich zurück. Dreizehn Tage sind seit meiner Rückkehr in die Normalenwelt vergangen. Dreizehn Tage ohne einen Rückfall und jetzt flirte ich sogar. Ich bin in einem Cafe und frühstücke. Der Kaffee verfehlt seine Wirkung nicht und gibt mir zusätzliche Sicherheit. „Möchten Sie noch etwas?“
Eigentlich ist hier Selbstbedienung. Aber sie hat den Nachbartisch abgeräumt und war eben in der Nähe, lächelnd.
„Nein danke. Sehr aufmerksam.“
„Einfach rufen, wenn etwas fehlt.“
„Es würde helfen, wenn ich Sie mit ihrem Namen rufen könnte.“
„Ellen, ich heiße Ellen.“
„Hallo Ellen, ich bin Laurent.“
„Hallo Laurent.“
Sie wartet. Ich fasse einen Entschluss.
„Ellen, hast du einen Kuli für mich?“
Während sie den Kuli von ihrem Blusenausschnitt fischt, nehme ich eine Papierserviette. Ich nehme den Kuli aus ihrer schlanken Hand und schreibe meinen Namen und die Handynummer auf die Servierte.
„Danke schön.“
Einen Augenblick zögert sie, bevor sie beides an sich nimmt. Ich blicke ihr noch bis zum Tresen nach. Den Rest Kaffee trinke ich stehend und verlasse das Cafe. Kurz hinter der Ladentür spüre ich wie das Handy vibriert
*
Ellen ist süß. Ich habe ihr nach einigen Dates von meinem Aufenthalt in der Anstalt erzählt. Zuerst war sie zurückhaltend, aber als sie den Grund erfragte, änderte sie ihre Haltung.
Ich bin auf dem Weg, um sie zu treffen. Später wollen wir zusammen auf eine Fete. Eine ihrer Freundinnen gibt die Party. Nach dem zweiten Schellen brummt der Türöffner und ich gehe in den dritten Stock. Wieder klopfe ich zweimal, ehe sie öffnet. Sie sieht atemberaubend aus. Weißblaue Leinenschuhe, enge Bluejeans, die ihre Figur und die schmale Taille betont. Ihre schulterlangen, blonden Haare fallen auf ein weites rotes Top. Blutrot. Sie ist hinreißend und betörend. Der Atem bleibt mir weg und ich suche Halt am Türrahmen. Meinen Blick kann ich dabei nicht von ihr lösen. Mir wird schwindlig und Ihr Lächeln verwandelt sich in Besorgnis.
„Laurent, was ist mit dir?“
Ich kämpfe die Panik nieder. Mein Schwindel wandelt sich in Übelkeit. Ich schließe die Augen.
„Einen Moment, ich brauche einen Moment.“
Nebenbei nehme ich wahr, dass Ellen mich in die Wohnung führt, zu einem Stuhl und sich besorgt vor mir hinkniet. Sie sagt nichts, schaut mich nur an und wartet darauf, dass ich bereit bin zu reden. Langsam bekomme ich mich in den Griff. Keine Vision, Gut!
„Entschuldige, ein kleiner Schwächeanfall. Du siehst atemberaubend aus, vielleicht war es ja das.“
Ihre Mine ändert sich nicht, immer noch blickt sie besorgt.
„Passiert dir das oft?“
„Nein, nicht in den letzten 6 Monaten. Davor allerdings war das anders.“
Sie legt eine Hand auf mein Knie.
„Warum also jetzt?“
„Es tut mir leid, irgendetwas an dir hat es ausgelöst.“
„Was war es, hast du eine Ahnung?“
„Ich glaube, es ist dein rotes Top. Es hat die gleiche Farbe wie…“
Ich kann die Erkenntnis in ihrem Gesicht sehen.
„Das wusste ich nicht. Ich hatte ja keine Ahnung. War es sehr schlimm?“
Einen Moment sprengt es mich wieder in die Vergangenheit. Dann reflektiere ich, dass es mir gelingt eine neutrale Position dabei einzunehmen. Zum ersten Mal seit der Therapie rede ich zu jemandem über das Unglück.
„Ich erinnere mich nur in Bruchstücken daran. Manchmal bekomme ich Visionen, weiß aber nicht, welche davon Erinnerungen sind oder welche Alpträume. Da waren eine junge Studentin und ein junger Mann. Ich erinnere mich auch an den Schaffner. Keiner der Drei hat überlebt. Manchmal sehe ich sie. In einer Person, im Spiegel, in einem Schaufenster. Es ist so real.“
Erst jetzt hebe ich den Blick und wage sie anzusehen. Dabei vermeide ich das Top zu fixieren. Als sich unsere Blicke treffen, nimmt sie die Hand von meinem Knie und streicht mir über die Wange. Es tut gut. Ich fasse nach ihrer Hand und halte sie an meine Wange gepresst.
„Danke.“
Jetzt lächelt sie wieder.
„Du sagst, das rote Top war es?“
In einer langsamen fließenden Bewegung löst sie ihre Hand von meiner Wange, fasst den Saum des Tops und zieht es über ihren Kopf. Dann lehnt sie sich nach hinten und stützt sich mit beiden Armen am Boden ab.
„Ist das besser so?“
„So war es nicht gemeint.“
„Das weiß ich, küss mich.“
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