
Ich breche entzwei. Etwas Furchtbares zieht mich in die Tiefe. Resignation und Melancholie bemächtigen sich meinem Geist. Es gelingt mir nicht, mich daraus zu befreien. Mein ich fängt an sich aufzulösen. Die Verzweiflung ist so vollkommen, dass ich die Gegenwehr einstelle. Ich sehe keine Bilder, nur verwischte Eindrücke. Das Gefühl jedoch ist allumfassend. Dann, am dunkelsten Punkt, erscheint dies gelbe Licht. Flammt auf, wie eine Supernova. Drängt die Schwärze aus meiner Wahrnehmung. Wie eine Wassernymphe schwebt sie in einem unbekannten Fluidum. Ihre blonden Haare bewegen sich schwerelos in der nicht zu bestimmenden Strömung. Ihre Wärme gibt mir die Stärke zu bestehen. Gegen das unbekannte Grauen zu bestehen, dass mich attackiert. Wärme und Zuversicht erfüllen mich. Dann ruft sie nach mir.
„Laurent? Laurent…“
Ich erwache.
Aurora hat recht. Es zieht mich runter. Wieder dieses Gefühl des grenzenlosen Verlustes. Auch die Melancholie will nicht weichen. Mühsam kämpfe ich mich an die Oberfläche des Rationalen. Verdammt, ich kann ein Bild von ihr zeichnen, so genau kenne ich ihr Aussehen. Trotzdem ist sie mir noch nie in meinem Leben begegnet.
Neben mir vernehme ich die regelmäßigen Atemzüge von Aurora. Ich lausche dem leisen Rhythmus. Ein, aus, ein, aus….Dann bemerke ich ihren Duft. Wie damals im Zug, als ich sie ansprach. Es ist wie ein schwaches Bouquet aus Wildblumen. Ich habe immer noch die Augen geschlossen. Bemühe mich die kleinsten Hinweise aufzunehmen die sie mir liefert. Dann wird das Verlangen sie zu betrachten zu groß. Ich öffne die Augen und lasse meinen Kopf zur Seite rollen, um sie anzuschauen. Und blicke in die gebrochenen Augen von Aurora! Ein Schrei bricht aus mir hervor, gequält.
Ich erwache, erneut…
Der Rhythmus ihres Atems, ihr Geruch. Meine Augen aufreißend fahre ich herum. Aurora! Die hastige Bewegung hat auch sie aus dem Schlaf gerissen. Mit schreckgeweiteten Augen blickt sie mich an.
*
„Hell.“ Ich wende die oberste Karte auf dem Deck: Karo Dame.
„Hell.“ Herz Sieben.
„Dunkel.“ Kreuz 10.
„Hell.“ Karo Ass.
„Dunkel.“ Kreuz Bube.
„Hell.“ Herz König.
„Dunkel.“ Pik 9.
„Dunkel.“ Karo 8
„Dunkel.“ Pik Ass.
„Kreuz 7.“ Kreuz 7!
Das ist die beste Serie, die ich bisher hatte. Einige Karten finde ich mittlerweile direkt. Wie die Kreuz 7. Es ist kein Wissen, mehr ein Gefühl. Wie ein Verdacht, eine vage Ahnung. Das Gefühl kommt dem Hochgefühl, der Euphorie am nächsten.
Wider aller Vernunft hat die Idee etwas Anziehendes. Seit fast einer Woche übe ich mich in Präkognition. Die Erfolgsquote steigt. Höher als sie statistisch sein dürfte. Ich bemerke noch weitere Veränderungen. Es ist, als schärfe ich meine Sinne. Mir fallen Dinge auf, die ich sonst als selbstverständlich hingenommen habe. Kleinigkeiten. Verhaltensweisen von Personen ahne ich. In meiner Erinnerung sehe ich Details, die abweichen von den Gegebenheiten, sie variieren.
Natürlich nicht jedes Mal, aber es ist auffallend.
„Laurent, gestern Nacht…du hast mich erschreckt.“
Aurora reißt mich aus dem Gedankengang.
„Kann ich mir denken. Es war auch ganz schön gruselig.“
„Das ist nicht mehr normal. Solche Träume hat man nicht ohne Grund.“
„Welchen Grund sollte ich haben? Mir geht es doch gut.“
„Ich weiß es nicht, aber es beunruhig mich.“
„Okay. Ich sag dir was. Wenn es nicht besser wird, gehe ich in einer Woche mal zum Doc.“
„Bitte, es macht mir eine furchtbare Angst.“
Jetzt werde ich aufmerksam. In ihrem Gesicht kann ich die Angst sehen. Was an meinen Alpträumen kann ihr eine solche Angst einjagen?
„Hey, alles ist gut. Es sind nur Träume.“
Im gleichen Augenblick als ich es ausspreche weiß ich, dass es nicht wahr ist. Von dem letzten Traum habe ich ihr nichts erzählt, aber der hat sogar mich erschreckt. Ich stehe vom Sessel auf, gehe zu ihr und nehme sie in die Arme. Sie vergräbt ihren Kopf an meiner Schulter. Nach kurzer Zeit merke ich wie sie sich etwas löst. Ich fahre mit meiner Hand über ihre Haare und verweile in ihrem Nacken. Ihre Arme die sie, wie zum Schutz vor sich angewinkelt hat, legen sich um mich und wandern meinen Rücken hoch. Sie dreht ihren Kopf zur Seite, lauscht einem Moment meinem Herzschlag.
„Bleib. Bitte bleib bei mir.“
„Ich bin hier. Ich bleibe doch.“
Dann hebt sie ihren Kopf, blickt mich an. Sie weint.
„Ich bleibe doch.“ Flüstre ich.
Ein zaghaftes Lächeln stiehlt sich in ihr Gesicht. Ihre dunklen Augen erhellen sich etwas, warten auf den Schwur meines Versprechens. Als meine Lippen, die Ihren berühren, schließt sie ihre Augen und weitere Tränen rinnen ihre Wangen entlang. Mit einem leisen Seufzer erzittert sie, schmiegt sich an mich. Vertraut sich mir völlig an. Ich kann fühlen wie Schranken fallen, die sie verletzlich machen. Ihre Hingabe ist bedingungslos.
Sollte ich gehen, würde ich mit dem Schwur auch sie brechen.
*
„Ich weiß nicht wie oder warum, aber es funktioniert, irgendwie.“
„Mich überrascht, dass du es überhaupt versucht hast.“
„Wenn das möglich ist, was noch?“
Hendrik fingert wieder nach seinen Zigaretten. Er holt eine aus der Schachtel und steckt sie an. Als er den Qualm ausbläst, sieht er mich an und grinst.
„Rate…“
„Du wusstest was geschehen würde?“
Er nickt.
„Es ist wie mit Dominosteinen. Einmal angestoßen, fallen sie alle nacheinander.“
„Wieso macht es dann nicht jeder?“
„Angst, mangelndes Vertrauen, Unglaube. Such dir was aus. Ich denke auch das die Begabungen unterschiedlich sind. Bei dem einen klappt es gut bei anderen nicht so gut. Dann sind die Fähigkeiten auf einem anderen Gebiet. Wichtig ist das Selbstvertrauen.“
„Also weitermachen?“
„Sag du es mir. Was willst du, welches Ziel willst du erreichen?
„Keine Ahnung. Bis vor einer Woche wusste ich gar nichts davon. Jetzt merke ich das meine Vorstellung von der Welt und wie sie funktioniert falsch oder doch sehr lückenhaft ist.“
Er grinst wieder.
„Ja, weiter?“
„Das mit den Karten ist nicht das einzige was ich festgestellt habe.“
Er zieht an seiner Zigarette, wartet ab.
„Es ist als wenn ich mich in Personen hineinversetzen könnte. Ich weiß was sie als nächstes tun werden.“
Er zieht eine Augenbraue hoch.
„Weißt du was sie tun werden oder manipulierst du sie?“
Mir wird ein wenig warm. Zu dieser Schlussfolgerung bin ich noch gar nicht gekommen.
„Keine Ahnung, ich weiß es nicht.“
„Ich schlage vor, du findest es heraus.“
„Was kommt noch? Wie erfahre ich mehr?“
„Ich finde du hast schon recht viel herausgefunden. Intuition wird dir auch hier weiterhelfen. Du erinnerst dich doch noch an unser erstes Gespräch?“
„Du meinst das mit dem Instinkt? Ja klar, aber du weißt doch wie. Sag´s mir.“
„Kann ich nicht. Das wirst du selbst merken. Außerdem hast du deinen Feind noch nicht getroffen.“
„Feind? Welcher Feind?“
„Wirst du wissen, wenn du ihn triffst.“
Er drückt die Zigarette aus.
„Es ist spät, ich denke ich geh jetzt nach Hause.“
„Verdammt von welchem Feind redest du? Du kannst jetzt nicht einfach gehen.“
Er schaut mich amüsiert an.
„Kann ich nicht?“
„Nein, zum Teufel. Du kannst mir nicht etwas von einem Feind erzählen und dann einfach verschwinden.“
„Wenn ich es dir erzähle wird es nur schlimmer. Du glaubst mir nicht, handelst anders, gibst auf oder wirst paranoid. Nein, ich gehe jetzt. Beim nächsten Mal wird es bestimmt interessant, wenn wir uns unterhalten. Bis dahin, mach´s gut.“
Er legt 20 Euro auf den Tresen, nickt dem Wirt zu und geht an mir vorbei. Ich bin so verblüfft, dass ich nicht reagiere, bis er aus der Tür raus ist. Aurora steht bei Frank in der Gruppe. Ich starre auf mein Getränk. Meine Gedanken überschlagen sich. Der Typ ist unheimlich. Ich muss nachdenken, in Ruhe.
„Hey, alles OK? Wenn du willst können wir nach Hause gehen.“
Aurora habe ich nicht mal kommen sehen, aber nach Haus wollte ich. Das war mein Gedanke, oder?
„Lass uns gehen.
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