Um dem schrillen Kreischen der Turbinen der Kampfjets zu entgehen, presst sie die Hände auf die Ohren und duckt sich. 40, höchstens 50 Meter rasen sie über die Beiden hinweg. Doch die Beiden sind nicht das Ziel. Sie jagen auf eine bewaldete, sanfte Bergkuppe in einigen Kilometern Entfernung zu. Aus der entgegengesetzten Richtung tauchen ebenfalls zwei Maschinen auf. Von allen Jets schießen helle Punkte aufeinander zu. Einer der Jagdflieger, der ihnen entgegen kommt vergeht in einem Feuerball, der Zweite wird getroffen und Wrackteile entfernen sich vom Rumpf, der zu Boden rast. Eins der Kriegsflugzeuge, die aus der Richtung der Beobachter zum Hügel fliegt, vergeht ebenfalls in einem Flammenmeer. Das Zweite überfliegt die Bergkuppe und verschwindet dahinter. Dann flammt die Hälfte des Bergrücken auf und Feuer fließt wie Wasser die Hänge hinab. Über die unberührte Seite der Bergkuppe, rollen mehrere Panzer in ihr Sichtfeld. Hinter den Beiden rasen, ebenfalls im Tiefflug, vier Kampfhubschrauber auf die Frontlinie zu. Als sie anfangen aufeinander zu feuern, wende die Frau sich ab und verbirgt ihr Gesicht an Adrians Brust. Inmitten des Gefechtslärm, dem tobenden Wahnsinn, sucht Jules bei ihm das Einzige was ihr noch Halt gibt. Als sie seine Arme umfangen, flüstert er in ihr Ohr:
„Jules, es ist soweit, du musst loslassen. Bevor wir uns wiedersehen, musst du loslassen!“
Im Traum wechselt die Szene.
*
„Du kannst hier nichts mehr tun. Komm!“
„Warte.“
„Wir haben keine Zeit, sie kommen wieder.“
Lysanne greift zu dem am Boden Liegenden und streift sanft über die Wunden in seiner Brust.
„Finde Frieden, Leutnant.“
„Komm jetzt Mädchen oder wir sind die Nächsten!“
Als das Mädchen zu dem Soldaten nach oben schaut, sieht sie ihn mit einem durchdringenden Blick an. In einer langsamen, fließenden Bewegung kommt sie aus der Hocke, ohne den Blick von ihm zu lösen. Weder die Bewegung noch dieser Blick passen zu dem Teenager, der gerade ein Scharmützel überlebte. Keine Zeit um darüber zu sinnieren! Der Soldat wendet sich von ihr ab und geht in Richtung seines entfernten Unterschlupfs. Ohne das er sich umdreht weiß er, das sie folgt. Sie vermeidet unnötige Geräusche. Ein weiteres Indiz das etwas an diesem Mädchen sonderbar ist. Als der Soldat kurz zur Sonne blickt, wacht Juliana auf.
*
Noch in den Eindrücken des Traumes gefangen, wischt sie die feuchten Spuren aus ihrem Gesicht. Es ist soweit. Der Soldat ist aufgetaucht, endlich!
Einen Augenblick bleibt Jules liegen um sich zu sammeln. Der Moment, den sie am meisten gefürchtet hat, ist fast da. Das Versteckspiel hat ein Ende.
Die leichte Decke an die Seite schlagend, schwingt sie die Beine aus dem Feldbett. Es ist frisch, aber nicht kalt. Die ersten Geräusche aus dem Lager dringen zu ihr ins Zelt. Morgen Abend müssen sie einen neuen Platz gefunden haben. Weit weg von dem Hügel, an dessen Ausläufern sie zur Zeit lagern. Nach dem Mittag wird das Erkundungsteam aufbrechen. Zu ihrer schlafenden Tochter blickend, beschließt sie, dass Lysanne mitgehen wird. Bis sie ihre Tochter wiedersehen kann, wird einige Zeit vergehen. Nach ihren Sachen greifend, überlegt sie, ob schon jemand im Lager Kaffee aufgebrüht hat. Mit ihren Füßen schlüpft sie in die schweren Stiefel und streife ihre Jacke über. Noch einmal schaut sie zu Lysanne und verlässt dann das Zelt. Tief saugt sie die frische Morgenluft in sich auf. Felix, einer der Veteranen, ist ebenfalls schon auf den Beinen. Er wird den Spähtrupp anführen, da er die meiste Erfahrung hat. Bis jetzt. Als er Juliana sieht, füllt er eine weitere Tasse aus der Kanne die über dem Lagerfeuer heiß gehalten wird. Mit einem breiten Grinsen in seinem Gesicht schlendert er auf sie zu.
„Guten Morgen Jules, Kaffee?“
Sie muss lächeln, seine Fröhlichkeit ist ansteckend.
„Guten Morgen Leutnant, gern.“
Gemeinsam genießen sie die frühmorgendliche Stimmung. In den Wipfeln der Bäume sind die ersten Stimmen des Tages zu hören. In einiger Entfernung kann man zwischen den Stämmen des Waldes die faserigen Nebelfetzen ziehen sehen. Der warmen Geruch des Kaffees schmeichelt ihr. Gemischt mit dem frischen, moosigen Waldgerüchen vergisst sie für einen Augenblick alles andere.
Als der Mann neben ihr einen ordentlichen Schluck aus seiner Tasse trinkt, verzieht er sein Gesicht und zerrt sie in die Gegenwart zurück.
„So schlimm?“
„Schlimmer! Wir brechen das Lager ab?“
Juliana nickt.
„Es wird ungemütlich. Innerhalb der nächsten zwei Tagen sollten wir unser Lager um mindestens 50 km verlegt haben. Auch die anderen Camps sollten in Richtung Nordosten umziehen.“
„In Ordnung, ich kümmere mich darum. Wann soll ich aufbrechen?“
„Heute nach dem Mittag. Lysanne wird euch begleiten.“
„Lysanne? Bist du sicher? Sie ist noch ein Kind.“
„Ich weiß, trotzdem ist es wichtig, das ihr sie mitnehmt.“
Er schaut in ihre Augen, versucht darin zu lesen. Sein Schicksal, dass der Gruppe. Irgendwas. Was kann, was soll sie ihm sagen?
„Ich weiß was ich tue, Leutnant.“
„Das weiß ich.“
Er schaut weg, trinkt einen weiteren Schluck. Nach einigen Augenblicken wendet er sich ab und geht zu sein Zelt, um sich vorzubereiten. Auch Juliana nimmt einen Schluck von dem schwarzen Gebräu. Es ist scheußlich! Langsam kommt Leben in das Lager. Sie überlegt ob sie zurückgehen und Lysanne wecken soll, letzte Anweisungen geben. Auch Lysanne weiß von diesem Tag. Als Jules das erste Mal davon sah, erzählte sie es ihrer Tochter. Von da an träumte Juliana die Begegnung zwischen ihr und dem Soldaten häufig. Mit der Zeit erkannte sie immer mehr Details. Mit einem Ruck reißt sie sich aus den erdrückenden Gedanken und geht zum Zelt zurück.
„Aufstehen, Schlafmütze. Es wird Zeit, sie haben sogar schon Kaffee gekocht.“
Statt einer Antwort bekomme sie ein brummeliges:
„Lass mich…“
„Na gut, ich sage dem Leutnant, dass er ohne dich losgehen soll.“
„Was hast du gesagt?“
Jules setzt sich auf ihr Feldbett und betrachte ihre Tochter. Lysanne hat die Decke zum Teil zurückgeschlagen und ihren Oberkörper aufgerichtet, wobei sie sich auf ihre rechte Hand stützt und sich verschlafen ihre Augen mit der Linken reibt. Sie ist fast erwachsen. Heute Nachmittag wird Lysanne mit einem Trupp der hartgesottensten Veteranen ins Feld ziehen. Um von dem Soldaten „gerettet“ zu werden. Jules schluckt, um den Kloß in ihren Hals loszuwerden. „Verflucht Adrian,“ denkt sie, „warum ich, warum Lysanne?“
„Heute Nachmittag ziehst du mit dem Spähtrupp los.“
Lysanne unterbricht ihr tun, fixiert ihre Mutter.
„Heute Nachmittag sagst du? Geht es los?“
Jules nickt.
„Ja, es ist soweit.“
„Wie lange?
„Etwa zwei Wochen schätze ich.“
„Woher weiß ich, wann es soweit ist? Wie finde ich euch?
Plötzlich erscheint sie Jules wieder so verletzlich, kindlich. Was, wenn sie sich irrt, falsch liegt? Äußerlich ruhig erhebt sich Jules von der Bettkante und setzt zu ihrer Tochter.
Innerlich schreit sie.
„Sei ganz ruhig, es wird alles gut werden. Ich verspreche es.“
Innerlich zerreißt es sie.
„Hast du Vater gesehen?“
„Ja.“
„Grüß´ ihn von mir und sag´ ihm, dass ich ihn lieb´ habe.“
Innerlich bricht sie.
*
Seit mehreren Tagen beobachte ich die kleineren Camps. Anfangs dachte ich es sind Paramitärs oder Special Forces. Sie sind ziemlich gut durchorganisiert und sehr flexibel. Mehrere Male verlegten sie Camps, vor Aufklärungsflügen oder Patrouillen. Ihre Aufklärung muss außergewöhnlich gut sein. Aber dann habe ich die Zivilisten in den Lagern gesehen. Als sie dann einen Spähtrupp aussendeten, war mein Interesse geweckt. Seit etwa 40 Minuten versuche ich mich an die sechs Mann starke Gruppe anzupirschen. Der Anführer ist ein Profi, mit militärischen Background und Erfahrung. Worüber ich mir den Kopf zerbreche, ist die junge Frau die sie begleitet. Aus meinem Versteck beobachte ich, wie sie Deckung nehmen, als er das taktische Zeichen gibt, eine Faust über den Kopf. Automatisch suche ich die Gegend nach Anzeichen einer Gefahr ab. Unterdessen verteilen sich die Anderen und verschmelzen geräuschlos mit der Umgebung. Die junge Frau schaut zum Himmel, mein Blick folgt ihrer angegeben Richtung. Tatsächlich sehe ich einen kleinen Fleck am Himmel. Einer der Soldaten reagiert und legt sich auf den Rücken. Er legt das Gewehr ab greift in seine Beintasche, zieht eine Schleuder und ein kleines Knäuel hervor. Mit großer Kraft zieht er die Schleuder durch. Als das Gummiband das Knäuel zur Drohne hochschleudert, entfaltet sich ein feinmaschiges Netz, das sich um die Drohne legt und die Rotoren blockiert. Die Drohne fängt an zu kreiseln und stürzt zu Boden.
300 – 400 Meter vor ihnen bewegt sich etwas Schweres zielstrebig durch das Unterholz. Als die Drohne aufschlägt, erwacht das Ungetüm vor ihnen mit einem schrillen Pfeifen zum Leben. Aus dem Unterholz schält sich ein gepanzertes Kettenfahrzeug. Zu klein für eine Besatzung, zu intuitiv für eine Maschine. Ein gesteuerter Halbautomat.
Die junge Frau rollt sich zur Seite in eine Senke. Hochgeschwindigkeitsgeschosse pflügen das Erdreich um sie herum auf. Durch die Schreie der Anderen, das Heulen der Gatling und die pfeifenden Geschosse um der Frau, erstarrt sie. Das Ungetüm bewegt sich immer näher an sie heran. Von meinem Platz aus, kann ich erkennen das eine weitere Drohne aus dem nahegelegenen Wäldchen heranrast. Die Soldaten sprinten getrennt auf unterschiedlichen Wegen, aber der gleichen Richtung vor der Bedrohung davon. Die Frau ist immer noch an demselben Platz, leicht auszumachen für die Drohne und leichte Beute für die Killermaschine! Fluchend sprinte ich los, reiße meinen Poncho über den Kopf.
Nur noch wenige Meter trennten den Automaten von der Frau. Ich werfe mich neben sie, und ziehe den Poncho der Länge nach über uns beide. Zum Glück für uns Beide sind die Schnürungen unter den Armen offen. Als sie versucht den Poncho ein Sück anzuheben, drücke ich ihren Arm runter und zische sie an:
„Still!“
Die Ketten bewegen sich an uns vorbei. Immer wieder kurze Feuerstöße in alle möglichen Richtungen feuernd.
Als der Automat sich eine deutliche Strecke von uns entfernt hat, ziehe ich die Hand von ihrem Arm und flüstere in ihr rechtes Ohr:
„Bleib liegen, zweite Drohne!“
Konzentriert versuche ich die Situation einzuschätzen. Angespannt achte ich auf Anzeichen, ob der Automat seine Richtung ändert. Vorsichtig ziehe ich den Poncho ein Stück zur Seite, lausche, sondiere. Als die Geräusche sich weit genug von uns entfernt haben, befreie ich unsere Köpfe und schaue zu ihr. Symbolisch lege ich den Zeigefinger auf meinen Mund. Als ich sie dabei mustere bemerke ich, das neben mir eine Jugendliche und keine junge Frau ist.
Wir richten uns vorsichtig auf. Mit dem Arm weise ich die Marschrichtung. Sie schüttelt ihren Kopf und zeigt auf sich und zieht mit dem rechten Arm einen Halbkreis um sich. Ich schüttelt den Kopf, hebe meine freie, geöffnete Hand und schließt sie schnell. Zeige auf sie, dann mich und erneut in die Richtung. Sie zuckt mit den Schultern. Ich nicke. In geduckter Haltung bewege ich mich vorwärts, sie folgt mir.
Als wir eine Weile gegangen sind, weit genug nach ihrer Meinung, zischt sie mich an:
„Was ist mit meinen Leuten?“
„Zu gefährlich! Es war schon ein Risiko dich da rauszuholen. Außerdem sahen die nicht wie Anfänger aus. Die wissen was zu tun ist.“
„Aber wir müssen ihnen helfen!“
„Entweder haben sie sich selbst geholfen oder es ist ohnehin zu spät! Zurück können wir nicht. Sehen wir zu, dass wir möglichst viel Raum zwischen uns und dem Ort schaffen. Was immer das für eine Kiste war, mir ist dieses Prachtstück noch nie unter die Augen gekommen. Ich kann dieser Maschine auch keiner Nationalität zuordnen und das macht mich nervös.“
Während wir durch das Gelände laufen, ändere ich mehrmals die Richtung. Immer nur geringfügig, aber doch so, dass wir nach einer Weile einen ziemlichen Bogen geschlagen haben.
Wir halten kurz für eine Trinkpause, wobei ich ihr eine Feldflasche hinhalte. Ohne zu zögern greift sie danach und trinkt ausgiebig von dem lauwarmen Wasser. Sie gibt mir die Feldflasche zurück. Einen Moment zögere ich:
„Warum warst du bei dem Spähtrupp?“
„Welchen Spähtrupp?“
„Komm Mädchen, stell dich nicht dumm. Ich beobachte eure kleinen Camps schon eine Zeitlang. Ihr habt denen ganz schön viel Ärger gemacht, auch wenn ihr unverschämtes Glück hattet. Also warum hast du das Lager verlassen und bist bei einer solchen Mission dabei. Die anderen haben militärischen Background, aber du…?“
„Man hat mich mitgeschickt.“
„Zu welchem Zweck?“
„Das weiß ich nicht.“
Sie kann sehen, wie ich bewusst die Lippen zusammenpresse.
„Nun gut, belassen wir es dabei, für´s erste. Bist du allein?“
„Nein, ich war mit meiner Mutter unterwegs.“
„Wo ist sie jetzt, im Lager?“
„Das weiß ich nicht.“
Einen Augenblick schaue ich sie an, schließlich verstaue ich die Feldflasche und wir gehen weiter, ohne nochmals miteinander zu sprechen.
*

