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Der Märchenwald -4-

„Zunächst einmal bin ich keine Zauberin, sondern eine gute Fee. Das kann man ja wohl sehen. Ich habe Flügel und eine Krone und keinen Mantel oder Hut. Und dann seid ihr von jetzt an Flusstrolle! Ihr riecht fürchterlich nach Unrat, geht euch mal waschen. Aber vorher will ich wissen, wo das Waisenkind ist. Das zu befreien sind wir schließlich hier.“

„Oh mächtige Fee, erst wollten wir es fressen. Doch dann hat es so herzzerreißend geweint, dass wir es nicht mehr fertigbrachten. Der Forstbehüter nahm es bei sich auf.“

Adrian hielt sich in einer dramatischen Geste die Hand vor die Augen: „Ist es noch zu fassen? Da machen sich die beste Fee, der mächtigste Drache und die größten Zauberer dieser Welt auf den Weg, um ein Waisenkind zu retten, das schon längst gerettet ist.“

Laurie legte den Kopf schief. “Ja, nicht wahr, ist schon komisch.“

„Können wir jetzt wieder gehen, gnädigste Fee?“ jammerten die Trolle.

„Nur wenn ihr versprecht von jetzt an gute Trolle zu sein, die niemandem mehr ein Leid zufügen können!“

„Ja, ja wir versprechen es!“ riefen die arglistigen Trolle wie aus einem Munde.

Laurie zeigte mit dem Zauberstab auf die Trolle:

“Nun also: Seid an euren Versprechen auf ewig gebunden, und von dem Zauber entbunden, ihr Flusstrolle!“

„Oh nein, sie hat uns hereingelegt! Ich kann sie nicht mehr fressen und außerdem möchte ich unbedingt baden!“

„Nun“, räusperte sich der Drache, „wenn das Kind wohlauf ist, kann ich euch ja wieder zurückbringen.“

„Davon will ich mich selbst überzeugen,“ rief Adrian sofort. „Was wissen wir schon über den Waldbehüter? Vielleicht ist er ja nicht gut zu dem armen Waisenkind?“

Die Trolle und der Drache schraken zurück. „Es ist nicht gut den Waldbehüter zu erzürnen,“ rief einer der Flusstrolle und kratzt sich unwohl an einer unsauberen Stelle.

„Wie finden wir den Waldbehüter denn? Weiß einer von euch, wie wir zu ihm gelangen?“ fragte Laurie in die Runde.

„Das weiß nun wirklich jeder,“ sagte der Drache. „Den Waldbehüter kann man nicht finden. Man muss ihn rufen. Er ist immer da, wenn man ihn ruft. Er hat kein Haus oder Platz. Er ist der gute Geist der Wälder, der Flur und aller guten Dinge.“

„Er sorgt für das Recht in dieser Welt!“ sagte ausgerechnet einer der Trolle.

„Wenn das so ist,“ meinte Adrian altklug. „Komm und erscheine in unserer Runde, Waldbehüter, wir rufen dich!“

„Oh oh,“ meinte der Drache mit einem Blick auf die von seiner Landung niedergewalzten Bäume.

„Nein, nein wir sind noch nicht gewaschen,“ riefen die Trolle in ihrer neu erwachten Eitelkeit.

Doch zu spät, in einem Luftwirbel manifestierte sich eine wohlgeformte Erscheinung. Gekleidet war die Gestalt in grüner Gewänder und mit einem Ehrfurcht gebietenden, unnahbaren Antlitz. Ringsum wirbelten Laub, Gras und Staub umher und die kleine Runde wurde ebenfalls von dem Wind und den umherfliegenden Dingen getroffen und alle schützten ihr Gesicht. Der Waldbehüter trat aus dem Wirbel ohne dass sich auch nur ein Härchen an ihm bewegte. Eine Stimme, so gewaltig, dass sie aus dem Himmel zu kommen schien, verkündete:

„Ein Drache, drei Flusstrolle und zwei Menschenkinder, welch seltsamer Anblick! Fürwahr, welches Unrecht gilt es wiedergutzumachen? Welches Unglück rückgängig? Sprich Adrian, Rufer des Waldbehüters!“

„Nun ja,“ meinte Adrian kleinlaut „eigentlich gibt es kein richtiges Unrecht oder Unglück. Laurie sag doch auch mal etwas!“

„Weiser Waldbehüter, uns wurde von diesen Trollen, diesen Flusstrollen, gesagt, ihr hättet das arme Waisenkind zu euch genommen und nun wollten wir wissen, ob alles zum Besten steht.“

Der Waldbehüter lächelte.

„Ja, ehrwürdige Fee Laurie, alles steht zum Besten. Ihr habt eure Aufgabe wohl erfüllt. Ihr, Drache, dürft zu eurer Lagerstätte zurückkehren, in dem Gedenken wohl gehandelt zu haben. Und räumt vorher die gefällten Bäume fort! Ihr Flusstrolle dürft nun zum See euch baden und ein besseres Leben führen.

Ihr aber, Fee Laurie und Zauberer Adrian, für euch endet nun dieses Abenteuer. Loggt euch aus diesem Adventure aus und fahrt das Cyberinterface in den Stand By Modus, um mit diesem Wissen zu Bett zu gehen und in eurer eigenen Welt zu ruhen für diese Nacht. Morgen werdet ihr einen Level höher in ein neues Abenteuer starten. Euer Vater kommt in einigen Minuten von der Arbeit und ihr solltet nun gehen.

Shutdown Sequenz starten und Programm deaktivieren. “

ENDE

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Der Märchenwald -3-

Der Drache beugte seinen langen Hals herunter und verharrte wenige Zentimeter vor Adrians Gesicht und blinzelte ihm zu.

„Das war jetzt wirklich das Netteste was du bisher zu mir gesagt hast, kleiner Zauberer!“

Verlegen kratzte Adrian sich am Kopf.

„Naja, ihr seid ja auch groß und könnt bestimmt auch Feuer spucken, oder?“

„Natürlich kann ich Feuer spucken, ich bin ein Drache! Aber weil ihr so etwas Nettes gesagt habt, dürfen Fee Laurie und ihr, kleiner Zauberer, auf meinen Rücken mitfliegen. Das geht schneller und ich mache nicht so eine Unordnung im Wald. Umgeworfene Bäume und so, ihr verstehet schon, nicht wahr? Der Waldbehüter wird dann immer so wütend mit mir.“

Laurie begab sich flugs auf des Drachen Rücken und Adrian zauberte sich selbst hinter sie. Der Drache nahm Anlauf, als er die Beiden hinter sich auf dem Rückenkamm sah und warf sich in die Luft. Freilich nicht ohne ein paar Bäume umzuwerfen. Dann trieben die mächtigen Flügel die drei über den großen Wald. Adrian war froh, dass der Drache sich ihnen angeschlossen hatte. Vielleicht war das sogar besser, als wenn sie den Kempen Thomas bei sich gehabt hätten. Plötzlich stieß der Drache nach unten und krachte mitten in den Wald und warf reihenweise Bäume um. Als er die Flügel anlegte, murmelte er vor sich hin, dass das dem Waldbehüter bestimmt nicht gefallen würde.

„Die Höhle dort drüben, da hausen die Trolle. Manchmal sind es fünf. Manchmal aber auch nur drei.“

„Wollen wir wetten? Es sind fünf! Bei unserem Glück sind es bestimmt fünf.“

Laurie hörte Adrian gar nicht mehr zu. Sie war schon auf dem Weg zu der Höhle. Als der Drache Laurie folgen wollte, zauberte sich Adrian schnell zu der Höhle. Er hatte das Gefühl, dass der Drache nicht immer bemerkte, was gerade unter seinen Füßen passierte. Als Laurie ankam, brüllte Adrian schon in die Höhle, die hässlichen und feigen Trolle mögen rauskommen, damit sie der große und mächtige Zauberer und Beschützer der freien Menschen bestrafen könne.

„Oh Adrian, musste das denn sein?“

„Ich denke wir wollen das Waisenkind befreien? Noch ein paar Minuten und es ist ganz finster in diesem Wald. Und überhaupt, wie wolltest du sie…“

Aus der Höhle kamen Geräusche als ob eine ganze Herde wilder Elefanten daraus hervorbrechen wollte. Schnell hastete Adrian einige Meter zurück zu seiner Schwester und dem Drachen, der nun auch bei Laurie angekommen war. Die Trolle kamen schimpfend aus dem dunklen Bau.

Adrian hatte Recht, sie waren dreimal so groß wie er. Und sie waren hässlich. Und sie waren zu dritt. Und er wollte aus keinen Fall so nah an sie herankommen, um herauszufinden ob sie stanken.

„Seht mal, leckere Menschlein. Und sie haben einen Drachen mitgebracht, zum Spielen!“

Die Trolle schlugen sich lachend auf die riesigen, mit Muskeln bepackten Schenkel.

„Wartet, ich hole unser Spielzeug,“ höhnte einer der Trolle und rannte in den Bau, um gleich darauf mit Keulen zurückzukommen, die größer waren als Adrian, ja selbst als der Kempe Thomas! An ihren Enden waren Eisenbeschläge mit dicken Stacheln.

„Komm spielen Drache, danach wollen wir speisen, Menschlein!“

Adrian wurden die Knie weich. Am liebsten wäre er davongelaufen. Dann fasste er seinen Zauberstab fester und überlegte, welchen Zauberspruch er zur Bekämpfung von Trollen einsetzen musste. Laurie schwebte auf die Drei zu und zeigte mit dem Zauberstab auf sie.

„Steht still!“

Mitten in der Bewegung froren die Ungetüme ein. Zwei Meter vor ihnen hielt Laurie an. Mit einem flinken Griff hätte eines der Ungetüme sie ohne Schwierigkeiten packen können.

„Ich könnte euch bis zum Morgen hier stehen lassen. Dann würde euch die Sonne zu Stein verwandeln. Aber wir wollen euch nichts zuleide tun. Habt ihr das verstanden? Ihr dürft sprechen!“

Mit lautem Gejammer konnten die Trolle wieder ihren Mund benutzen. Alle anderen Körperteile waren aber immer noch unbeweglich.

„Oh große Zauberin, was sollen wir tun, damit du uns erlöst?“

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Der Märchenwald -2-

© Lucienne Gronau

„Oh Adrian, deine Schwester, die gute Fee Laurie ist doch bei dir. Ich lasse keinen Troll, egal wie groß er auch ist, an dich heran.“

Adrian fühlte sich etwas besser.

„Und auch keine Oger oder Kobolde oder Drachen oder Unholde oder schwarze Männer oder böse Hexen oder…“

Adrian sank der Mut, während seine kleine Schwester konzentriert an den Fingen, alle finsteren Figuren, die in ihrer Altersgruppe zugelassen waren, aufzählte.

„….Gnome oder Springteufel oder große Spinnen.“

Adrians Schultern sanken herab:

„Laurie, dann lass uns schnell gehen.“

„Super, jetzt geht’s endlich los.“

Laurie schaute wieder von Adrian zum Wald und ging fröhlich auf den wirklich furchtbar finsteren Wald zu.

Adrian straffte seine Schultern und schlurfte hinter Laurie her. Sie überschritten die Waldgrenze ohne Vorkommnisse. Genau genommen passierte nichts. Aber der Wald wurde still. Unnatürlich still.

„Was wollt ihr in meinem Wald?“

Wie versteinert starrte Adrian auf den großen Drachen, den er für eine Felswand gehalten hatte.

„Wir sind gekommen, um das Waisenkind vor den Trollen zu retten!“ Laurie hatte beide Arme in die Hüfte stemmt und blinzelte zu dem riesigen Drachen hoch.

„Und was machst du hier?“

„Ich bewache den Wald, damit niemand ihn unerlaubt betritt!“

Adrian stieß den Zauberstab auf den Boden und am oberen Stabende stießen Blitze einige Meter in die Höhe.

„Wer bist du, Drache, dass du dem mächtigen Adrian, Bezwinger der finsteren Mächte, Beschützer der freien Menschen und Laurie der guten Fee den Weg verbietest?“

Der Drache richtete sich zur vollen Größe auf, stellte sich dabei auf seine vier Füße, dass der Boden bebte und sich Adrian kaum auf den Füßen halten konnte. Laurie hatte sich in die Luft erhoben und bemerke nichts von Adrians misslicher Lage.

„Ich werde dir Menschlein eine Lektion in Benehmen erteilen,“ donnerte der Drache und holte so tief Luft, dass Adrians Mantel und Hut in dem Luftzug flatterten. Gleichzeitig stieg dunkler Rauch aus seinen Nüstern.

Laurie indes schien von dem Atem des Drachen mitgerissen zu werden. Aber als sie kurz vor dem riesigen Maul des Drachen war, segelte sie um den Kopf herum, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Verwirrt stieß der Drache die Luft wieder aus. Adrians Mantel und Hut flatterten in die andere Richtung.

„Kleine, liebliche Fee, warum tatet ihr das?“

„Ihr braucht doch einem so kleinen Zauberer keine Lektion zu erteilen, um zu zeigen wie groß und stark ihr seid!“

„Laurie,“ heulte Adrian auf.

„Wunderbare Fee Laurie, Recht habt ihr, winzig ist er!“

„Großer, mächtiger Drache magst du uns nicht begleiten? Niemand könnte dann sagen wir hätten den Wald unerlaubt betreten.“

„Natürlich,“ murmelte der Drache, „eine grandiose Idee!“

Der Drache entfaltete seine Schwingen, fing an mit ihnen zu flattern und stampfte aufgeregt mit seinen vier Beinen.

„Natürlich, natürlich, reizende Fee Laurie, wie klug ihr doch seid!“

„He, wenn ihr mit eurem Süßholzraspeln fertig seid, könnte der Drache dann aufhören, alles in seiner Umgebung zu zermalmen?“ Adrian hatte sich hinter einem Felsen vor den Beinen des Drachen und dem von ihm ausgelösten Sturm in Sicherheit gebracht.

„Der wirklich kleine Zauberer, ihn hatte ich ganz vergessen! Weise Fee Laurie, belästigt er euch? Soll ich ihn zu Asche verbrennen oder mit meinen Füßen zermalmen? Wirklich, es macht mir gar nichts aus.“

„Nein, nein. Der kleine Zauberer gehört zu mir und lernt noch. Er meint es nicht böse. Komm, lass uns gehen. Es ist schon am Dämmern, es ist die Zeit der Trolle. Den guten Mächten gehört der Tag aber die Nacht gehört den Trollen.“

„Die Trolle? Ihr sucht die Trolle? Ich weiß, wo ihre Höhle ist. Wollt ihr wirklich dorthin? Es ist gefährlich, selbst für einen Drachen. Trolle können furchtbar sein.“

„Keine Angst lieber Drache, solange die gute Fee Laurie bei euch ist, werden keine Trolle, Oger, Kobolde…“

„Laurie bitte! Können wir nicht einfach gehen? Es ist ein großer, mächtiger Drache, er kann schon auf sich aufpassen.“

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Der Märchenwald -1-

© YSL

Adrian hob den Arm und wies mit dem Zeigefinger auf den Wald.

„Dort müssen wir hinein!“

„Bist du sicher?“ Laurie blinzelte ihren Bruder an. Sie sah ja schon ein bisschen komisch aus, mit der silbernen Krone und den Blumen im Haar. Dazu das Kleidchen aus weißem Glitzerstoff und dem Zauberstab mit dem Stern obendrauf. Nein, wirklich richtiggehend albern, kindisch war sie eben. Was konnte man schon von einer Zehnjährigen erwarten? Er dagegen war schon elf! Er hatte sich sein Zaubergewand angezogen und den spitzen Hut aufgesetzt, der ihn als ehrwürdiges Mitglied der Magierkunst auszeichnete. Jahrelanges Studium der magischen Künste sowie die Bezwingung unzähliger Ungeheuer und Bösewichte musste man vorweisen, bevor die magische Zunft einen den Zaubermantel und den Hut tragen ließ.

Eine Fee? Nein wirklich, wie unreif.

„Adrian!“ Laurie stampfte mit ihrem Fuß auf die Erde und fuchtelte mit dem Zauberstab in der Luft herum, dass die Funken in den Himmel stoben.

„Adrian, wir haben nicht mehr viel Zeit, gehen wir, jetzt in den Wald, um das arme Waisenkind zu retten oder warten wir bis die Sonne untergegangen ist und verschieben die Rettung noch mal auf morgen?“

Er ließ den Arm sinken und blickte seine Schwester mit ernster und reifer Miene an.

„Fee Laurie, wollt ihr mich wohl mit meinen richtigen Namen ansprechen! Ich bin Adrian der Mächtige, Bezwinger der finsteren Mächte und Beschützer der freien…. äh Menschen.“

Er hatte einen Augenblick vergessen, wie sein Wahlspruch ging. So etwas durfte nicht noch mal passieren. Schnell stieß er zur Bestätigung seiner Macht seinen Wander- und Zauberstab auf die Erde. Sofort bebten die Erde und die Wolken am Himmel wurden grau und bildeten einen Sturm, aus dem die Blitze nur so auf die Erde prasselten.

„Lass den Unsinn Adrian, wir kommen noch zu spät!“

Sie wirbelte einmal mit ihrem kleinen Zauberstäbchen und der Himmel war wieder so klar und blau wie zuvor. Dann wandte sie sich um und ging zu dem Wald.

„He Laurie warte auf mich, du kannst doch nicht einfach so weitergehen. Ich bin doch ein mächtiger…he, warte ich komme ja schon.“

Während er sie mit großen Schritten einholte, blickte er zum Wald.

Es war ein düsterer, grimmiger Wald. Selbst in der Abendsonne. Adrian mochte nicht einmal daran denken, wie er erst in der Nacht aussah.

„Sollten wir nicht doch bis morgen warten?“

„Großer, mächtiger Beschützer der kleinen Männchen, was wird aus dem kleinen Waisenkind? Willst du es noch eine Nacht bei den Trollen lassen?“

„Vielleicht können wir ja noch den furchtlosen Kempen Thomas rufen oder deine Freundin, die alte, weise Hexe Sina, die ja schon 16 Jahre alt ist und mächtige Zaubersprüche kennt?“

Laurie musterte ihren Bruder mit zusammengekniffenen Augen.

„Zaubersprüche wirst du ja wohl genug kennen, oder? Und den furchtlosen Kempen Thomas brauchst du nicht zu rufen, der hat Hausarrest, schon vergessen? Sag mal, du hast doch wohl nicht Angst?“

„Wer, iiiiich? Niemals!

Ich dachte nur das du die Gefahren in diesem Wald vielleicht nicht richtig kennst und und ….“

„Nun komm endlich, es sind nur Trolle!“

„Ja, nur Trolle, dreimal so groß wie wir und bestimmt sind es mehr als zwei und bestimmt sind sie hässlich und laut und riechen fürchterlich,“

maulte Adrian, dann fügte er leise hinzu:

„Und außerdem wird es bald dunkel.“

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Science Fiction

6.Kapitel -Wicca-

© David Scholtissek

Melissa also. Sie wohnt in dem Stadtrandgebiet, Reherweg. Von Ellens Wohnung ca. 45 Minuten. Aber das Wetter ist gut und wir wählen den Weg an der Weser entlang. Ich brauche die Zeit, um einen klaren Kopf zu bekommen. Viel Schlaf haben wir die Nacht nicht bekommen und mein Kopf fühlt sich wie in Watte gepackt an.

Nachdem wir in der 3 Etage des Wohnblocks angekommen sind, öffnet Melissa die Wohnungstür. Satt einer normalen Etagenwohnung, die ich erwarte, eröffnet sich mir eine scheinbar bunt gemischte Wohnungseinrichtung. Die Luft ist mit schweren Düften aus Duftkerzen, Räucherwerk und Ähnlichem beladen. An den Wänden hängen Bilder und Tücher, die scheinbar aus irgendwelchen Fantasy Magazinen stammen. Andere stellen Symbole aus verschiedenen Kulturkreisen dar. Irische, Indische und Chinesische springen mir ins Auge. Die Wohnung wirkt chaotisch, ist aber penibel sauber und aufgeräumt. Bücher verschiedener Größen und Stielrichtungen verteilen sich an jeden erdenklichen Platz, ordentlich aneinandergestellt. Der Eindruck von Unentschlossenheit drängt sich auf.

„Schön, dass ihr gekommen seid. Andreas kann manchmal voll daneben sein. Setzt euch.“

Melissa macht einen aufgeregten Eindruck. Anders als gestern. Unbeholfen folgen wir ihr in die Wohnung. Während wir uns eine Sitzgelegenheit suchen, stellt sie Gläser und Flaschen mit verschiedenen Inhalten auf den Tisch.

„Ähm ja, ich habe verschieden Säfte und Wasser. Was möchtet ihr?“

„Ich nehme Wasser.“

„Für mich auch.“

Wir warten. Sie schenkt ein.

„Du hast gestern gesagt, du hast einen anderen Verlauf des Unglücks in Erinnerung?“

Ich nicke.

„Macht es dir etwas aus, mir zu erzählen wie deine Version aus der Erinnerung abgelaufen ist?“

Ich habe erwartet, dass sie mich dazu auffordert.

„In meiner Erinnerung bin ich schon aus dem Zug raus, als eine Explosion mich trifft.“

Melissa sieht mich konzentriert an, wartet darauf, dass ich fortfahre.

„Ich hatte den Türöffner gedrückt, der Zug stand, am Gleis und ich bin bis kurz vor der Unterführung gelangt. Dann traf mich eine Druckwelle und ich landete in der Unterführung.“

Ich spüre, wie Ellen meinen Arm drückt, zur Unterstützung.

„In dem Waggon saßen weitere acht Leute. Unter anderem die Studentin.“

Ich fixiere Melissa.

„Warum ist Sie nicht ausgestiegen? Ich meine, sie wohnte doch in Hameln. Das spricht natürlich dafür, dass meine Erinnerung falsch ist.“

„Aber das glaubst du nicht, richtig?“

„Ich habe keinerlei Erinnerung an eine Entgleisung. Wenn der Zug so schnell war, wie es durch die Zerstörung aussah, sollte da nicht Panik unter den Passagieren ausbrechen? Sollte nicht irgendjemand die Notbremse ziehen? Ich meine der Zug entgleiste im Hamelner Bahnhof!“

Ich merke, wie ich immer lauter werde. Um mich zu beruhigen greife ich zum Glas und nippe daran. Eine Kunstpause.

„Sind beide Versionen gleich stark in deinen Erinnerungen?“

„Nein, ich erinnere mich nur an die Variante mit der Explosion.“

„Ja stimmt, sagtest du ja. Weißt du, der öffentliche Teil der Katastrophe belegt eindeutig eine Entgleisung. Das habe ich nachgeschaut. Ich glaube nicht, dass irgendwo etwas anderes belegt wird.“

Melissa hält kurz inne.

„Da werden wir nichts Neues erfahren. Aber, es gibt jemanden, der genau weiß, was passierte. Einen Augenzeugen!“

Ich bin wie vor dem Kopf gestoßen. Noch jemand?

„Wer?“

„Du.“

„Komm schon! Was soll das werden? Ich habe ein echtes Scheißjahr hinter mir. Und jetzt kommst du und willst mir erzählen, ich muss nur genügend nachdenken, um die Lösung zu erhalten?“

Ellen steht auf und ist ziemlich angesäuert.

„Melissa, echt jetzt? Los, Laurent, lass uns gehen.“

„Wartet, was ich euch vorschlagen will ist eine Rückführung. Unter Hypnose.“

Ich zögere einen Augenblick.

„Hör zu, ich war ein halbes Jahr in Behandlung, um das alles zu überwinden. Vielleicht war es ein Fehler hierher zu kommen.“

„Ich verstehe das. Lass dir Zeit, denke in Ruhe darüber nach.“

„Was hast du davon? Warum hängst du dich da so rein?“

„Als du von deiner Geschichte erzählt hast, hat das mein Interesse geweckt. Ich habe von einem ähnlichen Fall gelesen, der mich sehr faszinierte.“

„Ja, nur dass das hier keine Geschichte ist, sondern mein Leben.“

-Kapitel 5-                   -Kapitel 7-
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Science Fiction

5.Kapitel -Die Information-

© David Scholtissek

Ellen hat ihr Top gegen eine weiße Bluse getauscht und wir kommen doch noch zur Party. Auch die Party ist zu Fuß leicht zu erreichen. Von Ellens Wohnung in der Hunoldstraße, ein wenig abseits der Hamelner Innenstadt, sind es nur 15 Minuten zu der Wettorstraße, vor der wir stehenbleiben. Wir beide suchen die Nähe des Anderen, allerdings glaube ich aus unterschiedlichen Gründen. In meinem Fall gibt sie mir zusätzlichen Halt, weswegen ich mir ein wenig mies vorkomme. Schließlich haben wir gerade zusammengefunden und da soll ein anderes Gefühl im Vordergrund stehen und nicht reiner Eigennutz.

Ellen klingelt und eine quirlige Stimme fordert sie auf raufzukommen. Als wir die Haustür öffnen, können wir die Beats des Techno hören, die sich mit Gelächter und Gejohle vermischen. An der Wohnungstür wartet eine kleine, leicht Übergewichtige, deren lockigen, roten Haare sie wie eine Mähne umgeben. Als sie Ellen erblickt, quietschen beide auf und stürmen aufeinander zu. Nachdem sie sich begrüßt haben, stellt Ellen mich vor.

„Sybille, das ist Laurent.“

„Hi Laurent, ich bin Sybille. Kommt rein und mischt euch unter das Volk.“

Sybille und Ellen fangen an zu tratschen und gehen in das Wohnungsinnere. In der Küche sind die Getränke aufgebaut. Ein 20l Fass Bier steht auf der Küchenzeile und einige harte Getränke sind drum herum verteilt. Auf einem Tisch stehen Knabbereien. Die Beiden werden sofort von einigen Gästen vereinnahmt. Ich sehe ein Glas und versorge mich erstmal selbst, um nicht herumzustehen, mit etwas Wasser. Alkohol vermeide ich seit über einem Jahr, um die Anfälle nicht zu begünstigen. Danach bleibt mir nur die Gäste in der Wohnung zu mustern. Ab und an nippe ich an dem Glas.

„Du bist mit Ellen hier, stimmt’s?“

Neben mich hat sich eine Frau gestellt. Sie ist etwa Ende 20 und knapp 1,70m groß. Sie ist sehr dürr und hat kurze schwarze Haare.

„Ja, ich bin Laurent.“

„Freut mich Laurent, ich bin Melissa. Ich sehe dich heute das erste Mal. Na ja, Ellen und ich arbeiten in dem gleichen Cafe, deshalb kenne ich fast alle ihre Bekannten.“

„Hey ihr beiden Hübschen, verpasse ich hier gerade einen Flirt?“

„Hey Andreas, das ist Laurent. Er ist mit Ellen hier.“

„Mit Ellen?“

Er zieht eine Augenbraue hoch. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er mich damit meint. Als wenn er versucht unseren Beziehungsstatus einzuschätzen. Er ist eine Handbreit größer als Ellen, beziehungsweise kleiner als ich. Seine Füße stecken in Boots und die weite schwarze Cargohose hängt ein wenig an der schmalen Hüfte. Der Oberkörper ist beeindruckend muskulös und passt aber nur mäßig zu der Gesamterscheinung. Seine braunen Haare sind strubbelig, was scheinbar gewollt ist und seine heitere Natur unterstreicht. Auch seine Gesichtszüge sind eher feminin fein und seine Augen sind hell und leuchtend. Um weiteren Fragen zu meiner Person oder der Beziehung mit Ellen zu vermeiden, lenke ich das Thema auf die Party.

„Nette Party, läuft hier oft so was?“

„Jep, ist ein bisschen Creepy, dass du danach fragst. Sybille hat die Wohnung vor etwa anderthalb Jahren bezogen. Aber sie ist selten allein hier und sucht mittlerweile wieder eine andere Wohnung. Sie meint hier ist es unheimlich.“

Andreas schaut mich mit gefurchter Stirn erwartungsvoll an. Ich komme seiner Aufforderung nach.

„Weshalb, spukt es hier?“

„Sicher hast du von dem Zugunglück hier im Bahnhof gehört? Das Mädchen, das damals unter den Verunglückten war, wohnte hier.“

Mir wird eiskalt und ich merke wie mein Puls in die Höhe schießt.

„Du meinst, die Frau hat hier in dieser Wohnung gelebt?“

„Hm, soviel ich weiß, studierte sie in Hannover, aber ja, hier war ihre Wohnung.“

„Was weißt du noch über sie?“

„Sybille weiß ein wenig mehr. Ihr Name war Aurora Engel und sie studierte in Hannover. Pendelte wohl täglich zwischen der Uni und ihrer Wohnung. Das ist, was ich weiß.“

Jetzt mustert mich auch Melissa.

„Stehst du auf Horrorgeschichten oder warum das rege Interesse an der Toten?“

„Nein, ich war in dem Zug.“

„Scheiße, nicht dein Ernst?“

Andreas blickt mich an als würde ich ein Geist sein.

„Du bist der, den sie aus den Trümmern gezogen haben? Der Zug muss noch irre schnell gewesen sein, so wie das auf den Zeitungsfotos aussah.“

Melissa kneift die Lippen aufeinander und erwartet meine Antwort. Ich überlege, was ich darauf antworten soll. Ich kenne zwei unterschiedliche Versionen. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass die Variante mit der Explosion meiner Fantasie entsprungen ist. Aber diese Situation lässt mich wieder zweifeln. Wie wahrscheinlich ist ein solcher Zufall?

„Ich weiß es nicht mehr. Ich habe unterschiedliche Erinnerungen an das Unglück.“

„Du meinst, durch den Schock kannst du dich nicht mehr richtig erinnern was passierte?“

„Nein, ich meine, ich erinnere mich an noch ein anderes Unglück als in der Zeitung beschrieben.“

Melissa kneift jetzt neben ihren Lippen auch noch die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

„Schön, dass ihr euch schon kennengelernt habt.“

Ellen und Sybille schieben sich Arm in Arm in unsere Runde. Beide sind ausgelassen und genießen die Party sichtlich.

„Mensch Sybille, Laurent war auch in dem Zug. Wie das Mädchen, das hier in deiner Wohnung lebte!“

„Andreas, du bist ein Idiot!“

Melissa harkt Andreas unter und zerrt ihn von uns weg. Bevor sie in den nächsten Raum verschwinden, schaut sie über die Schulter und ruft:

„Ellen, meldet euch morgen unbedingt bei mir.“

Mit der Ausgelassenheit ist es erstmal vorbei. Ellen rollt mit den Augen und Sybille ist sichtlich pikiert.

*

Ich folge den Erhebungen und Senken ihres Halses. Den feinen Ästelungen ihrer Blutgefäße auf ihrer blassen Haut. Während ich mit meinen Fingern die Landkarte auf ihren Körper nachzeichne, geht ein leichtes Beben durch ihren Körper. Ihre Augen sind geschlossen und der Kopf ruht seitlich auf ihren hellen Haaren. Die Hände verweilen auf beiden Seiten neben ihrem Kopf.

„Du wusstest wer die Wohnung vor Sybille bewohnte?“

„Ja.“

„Es war auch kein Zufall, dass wir auf der Party waren?“

„Nein.“

Ich verharre an ihrem Bauchnabel und lege die flache Hand auf ihr Becken.

„Sybille wusste von mir?“

„Ja.“

Ellen öffnet die Augen und dreht den Kopf zu mir. Einige Momente schauen wir einander in die Augen.

„Ich wollte die Party abwarten. Danach hätten wir über die Sache sprechen können.“

„Hm. Warum hast du mich nicht vorher gefragt?“

„Bist du sauer?“

Ich horche in mich hinein. Bin ich sauer? Nein, ein wenig enttäuscht. Nicht, dass ich anders gehandelt hätte.

„Nein, eigentlich nicht. Ich fühle mich ein wenig überfahren, das ist alles.“

Ich streiche mit der Hand über ihre Haare, folge ihren Gesichtszügen, über die Wange zum Kinn.

„Was will Melissa, hast du eine Ahnung?“

„Nein, keine Ahnung. Aber es schien ihr wichtig.“

Sie dreht sich auf die Seite und stützt ihren Kopf auf den angewinkelten Arm, so dass wir uns anschauen.

„Wir müssen nicht zu ihr gehen, wenn du nicht willst.“

Ich sinniere, was ich gestern alles über die Unbekannte erfahren habe. Ihr Name ist Aurora Engel, sie wohnte in der Wettorstraße und sie studierte in Hannover.

Irgendetwas aber passt nicht zu den Informationen, die ich gerade zusammenfasse. Wenn sie doch in Hameln wohnte, warum ist sie nicht mit mir ausgestiegen? In dem Waggon waren acht Personen, neun mit mir. Aber ich bin sicher, dass ich als einziger das Abteil in Hameln verließ.

„Einen Cent für deine Gedanken.“

Einer Ahnung folgend:

„Ich denke wir sollten zu Melissa gehen. Es muss was bedeuten, dass ich damit nicht abschließen kann, dass ich immer wieder auf Details stoße.“

Ellen seufzt auf.

„Melissa weiß aber nicht mehr über die Sache als Sybille.“

„Wir können ja danach noch zu Sybille. Stört es dich, wenn ich kurz dusche?“

„Ich dachte, wir bleiben noch eine Weile?“

„Ich brauche ein Frühstück.“

„Ich kann schnell etwas machen.“

„Mach dir keine Umstände, ich lade dich ein.“

-Kapitel 4-                   -Kapitel 6-
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4.Kapitel -Konvaleszenz-

© David Scholtissek

Mir geht es gut, wirklich. Die Therapie dauerte fast ein halbes Jahr und es half, dass ich in einer Einrichtung untergebracht war, weg von meiner Wohnung. Raus aus allem was mich runterzog.

Ich atme die noch kühle Luft des frühen Morgens ein. Dabei sitze ich auf einer Bank und schaue über den Talkessel zu dem gegenüberliegenden Waldrand. Hinter den ersten zartgrün austreibenden Bäumen erhebt sich die Sonne. Tiefes Orange erleuchtet den Himmel. Es ist nur eine Farbe.

Als das Farbenspiel am Himmel der intensiven Helligkeit des Tages weicht, erhebe ich mich und gehe auf meine Station zurück. Meine Sachen sind schon seit gestern gepackt und ich warte in meinem Zimmer, bis ich zur Entlassung gerufen werde.

„Herr Mertens, kommen Sie bitte? Lassen sie Ihre Sachen ruhig noch hier stehen.“

Ich folge der Schwester, die mich zu der Therapeutin bringt. Sie klopft an der Tür des Behandlungszimmer, welches ich in dem halben Jahr so oft besucht habe.

„Frau Dr. Volmer? Herr Mertens ist hier.“

„Herr Mertens, heute ist es also soweit. Wie geht es Ihnen?“

„Gut, danke.“

„Besprochen haben wir alles, mir bleibt nur Ihnen viel Erfolg zu wünschen. Sollten Sie das Bedürfnis verspüren, rufen Sie mich an, jederzeit.“

„Frau Doktor, ich danke Ihnen für die Hilfe und die Unterstützung, die ich hier erfahren habe. Ich denke, diesmal bin ich gut vorbereitet.“

Wir sehen einander in die Augen, eine Zeitlang.

„Ja, sind Sie. Das schaffen Sie. Einige Kleinigkeiten noch. Sie gehen dreimal die Woche zu Ihrem Therapeuten. Nach vier Wochen beurteilen wir die Notwendigkeit erneut.“

Sie sucht meine Bestätigung, ich nicke.

„Sie nehmen Ihre Medikamente. Für den Notfall haben Sie meine Nummer.“

Wieder eine Kunstpause. Ich nicke erneut.

„Wissen Sie, wie Sie zurück nach Hause kommen?“

„Ich rufe mir ein Taxi zum Bahnhof, ich komme schon klar.“

„Natürlich. Leben Sie wohl, Herr Mertens.“

„Leben Sie wohl Frau Doktor.“

Sie schaut mir nach. Ich kann es fühlen, obwohl ich ihr den Rücken zugedreht habe.

Der Zug wird die Feuerprobe für mich. Das weiß sie und das weiß ich. Noch bevor ich die Anstaltstür erreicht habe, habe ich mir das Taxi bestellt.

*

Sie lächelt mich an. Gar nicht schlecht, für einen Psycho. Also lächele ich zurück. Dreizehn Tage sind seit meiner Rückkehr in die Normalenwelt vergangen. Dreizehn Tage ohne einen Rückfall und jetzt flirte ich sogar. Ich bin in einem Cafe und frühstücke. Der Kaffee verfehlt seine Wirkung nicht und gibt mir zusätzliche Sicherheit. „Möchten Sie noch etwas?“

Eigentlich ist hier Selbstbedienung. Aber sie hat den Nachbartisch abgeräumt und war eben in der Nähe, lächelnd.

„Nein danke. Sehr aufmerksam.“

„Einfach rufen, wenn etwas fehlt.“

„Es würde helfen, wenn ich Sie mit ihrem Namen rufen könnte.“

Ellen, ich heiße Ellen.“

„Hallo Ellen, ich bin Laurent.“

„Hallo Laurent.“

Sie wartet. Ich fasse einen Entschluss.

„Ellen, hast du einen Kuli für mich?“

Während sie den Kuli von ihrem Blusenausschnitt fischt, nehme ich eine Papierserviette. Ich nehme den Kuli aus ihrer schlanken Hand und schreibe meinen Namen und die Handynummer auf die Servierte.

„Danke schön.“

Einen Augenblick zögert sie, bevor sie beides an sich nimmt. Ich blicke ihr noch bis zum Tresen nach. Den Rest Kaffee trinke ich stehend und verlasse das Cafe. Kurz hinter der Ladentür spüre ich wie das Handy vibriert

*

Ellen ist süß. Ich habe ihr nach einigen Dates von meinem Aufenthalt in der Anstalt erzählt. Zuerst war sie zurückhaltend, aber als sie den Grund erfragte, änderte sie ihre Haltung.

Ich bin auf dem Weg, um sie zu treffen. Später wollen wir zusammen auf eine Fete. Eine ihrer Freundinnen gibt die Party. Nach dem zweiten Schellen brummt der Türöffner und ich gehe in den dritten Stock. Wieder klopfe ich zweimal, ehe sie öffnet. Sie sieht atemberaubend aus. Weißblaue Leinenschuhe, enge Bluejeans, die ihre Figur und die schmale Taille betont. Ihre schulterlangen, blonden Haare fallen auf ein weites rotes Top. Blutrot. Sie ist hinreißend und betörend. Der Atem bleibt mir weg und ich suche Halt am Türrahmen. Meinen Blick kann ich dabei nicht von ihr lösen. Mir wird schwindlig und Ihr Lächeln verwandelt sich in Besorgnis.

„Laurent, was ist mit dir?“

Ich kämpfe die Panik nieder. Mein Schwindel wandelt sich in Übelkeit. Ich schließe die Augen.

„Einen Moment, ich brauche einen Moment.“

Nebenbei nehme ich wahr, dass Ellen mich in die Wohnung führt, zu einem Stuhl und sich besorgt vor mir hinkniet. Sie sagt nichts, schaut mich nur an und wartet darauf, dass ich bereit bin zu reden. Langsam bekomme ich mich in den Griff. Keine Vision, Gut!

„Entschuldige, ein kleiner Schwächeanfall. Du siehst atemberaubend aus, vielleicht war es ja das.“

Ihre Mine ändert sich nicht, immer noch blickt sie besorgt.

„Passiert dir das oft?“

„Nein, nicht in den letzten 6 Monaten. Davor allerdings war das anders.“

Sie legt eine Hand auf mein Knie.

„Warum also jetzt?“

„Es tut mir leid, irgendetwas an dir hat es ausgelöst.“

„Was war es, hast du eine Ahnung?“

„Ich glaube, es ist dein rotes Top. Es hat die gleiche Farbe wie…“

Ich kann die Erkenntnis in ihrem Gesicht sehen.

„Das wusste ich nicht. Ich hatte ja keine Ahnung. War es sehr schlimm?“

Einen Moment sprengt es mich wieder in die Vergangenheit. Dann reflektiere ich, dass es mir gelingt eine neutrale Position dabei einzunehmen. Zum ersten Mal seit der Therapie rede ich zu jemandem über das Unglück.

„Ich erinnere mich nur in Bruchstücken daran. Manchmal bekomme ich Visionen, weiß aber nicht, welche davon Erinnerungen sind oder welche Alpträume. Da waren eine junge Studentin und ein junger Mann. Ich erinnere mich auch an den Schaffner. Keiner der Drei hat überlebt. Manchmal sehe ich sie. In einer Person, im Spiegel, in einem Schaufenster. Es ist so real.“

Erst jetzt hebe ich den Blick und wage sie anzusehen. Dabei vermeide ich das Top zu fixieren. Als sich unsere Blicke treffen, nimmt sie die Hand von meinem Knie und streicht mir über die Wange. Es tut gut. Ich fasse nach ihrer Hand und halte sie an meine Wange gepresst.

„Danke.“

Jetzt lächelt sie wieder.

„Du sagst, das rote Top war es?“

In einer langsamen fließenden Bewegung löst sie ihre Hand von meiner Wange, fasst den Saum des Tops und zieht es über ihren Kopf. Dann lehnt sie sich nach hinten und stützt sich mit beiden Armen am Boden ab.

„Ist das besser so?“

„So war es nicht gemeint.“

„Das weiß ich, küss mich.“

-Kapitel 3-                   -Kapitel 5-
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Science Fiction

3.Kapitel -Die Fährte-

© David Scholtissek

Der Kaffee schafft Vertrauen. In die Realität. Ein Relikt aus einer Vergangenheit, als die Welt Regeln und Gesetze hatte. Ich blicke aus dem Fenster neben mir. Die Stadt füllt sich mit weiteren Arbeitern und Hausfrauen. Zielstrebig und emsig eilen sie ihrer Bestimmung zu. Den Duft und die Wärme auskostend, wandert mein Fokus. Weg vom Tisch mit dem Mahl, das fast unberührt auf dem Tablet steht, zu dem Tresen. Ein Stapel druckfrischer örtlichen Zeitungen. Ich kann die Headline erkennen. Der Jahrestag des großen Zugunglücks! Ich falle in das Bodenlose. Dann schaue ich auf das Bild neben der Headline und der Bildbeschreibung. Entgleisung des Pendlerzuges vom …..

Keine Entgleisung! Eine Explosion! Ich stehe auf und grabsche nach dem obersten Exemplar. Das Bild zeigt die Verwüstung, die die Explosion in dem Bahnhof hinterlassen hat. Den Rauch, der dem Flammenmeer folgte. Doch der Artikel beschreibt eine Entgleisung und deren Opfer. Das Bild will so gar nicht zu dem Text passen.

Meine Hände krallen sich in die Zeitung. Ich rieche den Rauch. Verschmortes Plastik, heißes Öl und versengte Kleidung, Haare und…

„He, die müssen sie bezahlen!“

Ich liege auf dem zertrümmerten Bahnhofsboden.

„Wenn Sie die Zeitung so zerknüllen, müssen Sie die bezahlen!“

Mein Kopf fällt zur Seite und ich blicke in die entsetzlich erstaunten, gebrochen Augen der Frau. So tiefschwarz und grauenhaft stumpf, dass ich lautlos schluchze.

„Haben sie einen Anfall oder sowas?“

Das Tiefschwarze saugt mich auf, beginnt mich aufzulösen. Das Nichts löscht mein Bewusstsein.

„Öffne deine Augen“

Vergessen

„Öffne deine Augen und sieh mich an.“

Das Löschen aller Bezugspunkte ins hier.

„Sieh her!“

Die verdammte Stimme meines Therapeuten. Irgendwann muss ich ihn angerufen haben.

*

„Wird es schlimmer?“

„Es wird realer.“

„Wie meinen sie das? Erläutern sie ihre Worte.“

„Ich habe sie gesehen. Heute.“

„Sie glauben, Sie haben sie gesehen?

„Ich habe sie gesehen!“

„Beschreiben sie mir, was Sie gesehen haben.“

„Ich ging durch die Stadt, nachdem ich Ihren Anruf bekam. Wollte in ein Cafe um etwas zu essen. Habe es nicht ganz geschafft. Plötzlich war sie da. Sie berührte mich an der Schulter. Deshalb weiß ich, Sie war da.“

„Und wenn sie sich vertuen, wenn…“

„NEIN! Jede Nacht, jede verdammte Nacht seit einem Jahr sehe ich ihr Gesicht! Durchlebe jede verfluchte Einzelheit. Ich weiß genau wie sie aussieht.“

„Was hat den Zwischenfall ausgelöst? Können Sie sich erinnern was Sie dabei empfunden haben?“

„Ja, ich fühlte mich am falschen Ort, ich war falsch. Ich gehöre nicht hierhin.

Ich gehöre nicht hierhin…“

„Wenn unser Verstand etwas nicht verarbeiten kann, leugnet er gerne. Bildet Wunschvorstellungen. Verstehen Sie was ich Ihnen damit sagen will?“

„Sie war da und ich habe sie gesehen!“

„In Ordnung. Lassen wir das fürs Erste. Was hat den Anfall im Cafe ausgelöst? Kurz bevor ich bei Ihnen eintraf, was geschah da?“

„Ich habe in der Zeitung den Artikel über den Jahrestag des Zugunglücks gesehen. In der Überschrift stand, dass es eine Entgleisung des Zuges war. Das war es nicht.“

„Nein? Was war es denn?“

„Mein Gott, wir haben das schon zigmal durchgekaut. Nur eine Explosion wäre in der Lage gewesen eine solche Zerstörung zu verursachen. Niemals war das eine Entgleisung!“

„Erklären Sie mir, warum das keine Entgleisung gewesen sein kann.“

„Sagte ich doch schon. Die große Zerstörung im Bahnhof.“

„Die ist durch die Entgleisung des Zuges entstanden.“

„Der Zug ist nicht entgleist. Wie soll ich denn aus dem Zug rausgekommen sein, in die Unterführung?“

„Sie wurden rausgeschleudert.“

„Meine Verletzung und die Verbrennungen. Wo sollen die bei einer Entgleisung herkommen? Die Brände, das Feuer, woher?“

„Durch die Entgleisung wurde die Oberleitung gekappt. 15.000 Volt Spannung waren auf der durchtrennten Leitung, als sie die Erde berührte. Sie waren einfach zu nahe dran. Die hohe Spannung und der Strom, der durch die Erde geleitet wurde, bewirkte eine Plasmaentladung. Die schleuderte Sie in den Tunnel und verursachte auch die Verbrennungen. Ein halber Meter näher und Sie hätten das nicht überlebt.“

„Und das Feuer? Wo kam das her?“

„Die Entladung entzündete die Trümmer des Zuges. Einige Waggons brannten völlig aus.“

„Neeiiiin! Ich glaube Ihnen nicht! Ich habe den Türöffner gedrückt, der Zug stand längst!“

Ich schlage hart mit der Faust auf den Glastisch. Wieder und wieder. Bis er bricht. Auch danach schlage ich noch zu. Irgendwas Kaltes trifft meinen Oberarm und meine Wut und Verzweiflung lösen sich in Gleichgültigkeit auf.

-Kapitel 2-                   -Kapitel 4-
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Science Fiction

2.Kapitel -Visionen-

© David Scholtissek

Die Anmut wird in Stücke zerrissen. Die Unterlagen der gelben Mappe wirbeln umher. Die Mappe selbst verwandelt sich in gelbe Flammen, die über die Hände an dem Oberkörper der jungen Frau hinaufzüngeln. Das Gesicht, das sich mir zuwendet, lächelt mich an. Die Flammen wandeln ihre Farbe in Karminrot, umrahmen ihr Gesicht. Dann verschwinden die Flammen und rotes Blut tränkt die Stellen des Körpers, die eben noch von Flammen umhüllt waren. Das Lächeln ist aus dem Gesicht gewischt und Erstaunen, Entsetzen und Angst entstellen die ebenmäßigen Gesichtszüge.

Wie ein Brausen, das immer weiter anwächst, zu einem Donnergrollen, um in das Brummen des Weckers überzugehen, zerplatzt der Alptraum an der Wirklichkeit. Schwer atmend öffne ich die Augen.

Nacht für Nacht zerren mich Alpträume in immer neue Varianten zurück an den Tag vor einem Jahr. Die Wunden sind längst vernarbt. Die Seele aber blutet weiter.

Die Füße aus dem Bett schiebend, setze ich sie vorsichtig auf den Boden. Kalt, gut, real! Ich knete die Schulter. Eine Angewohnheit, mechanisch. Vom Bett abstoßend bewege ich mich in Richtung Badezimmer. Das kalte Licht von der Baddecke zeichnet scharfe Schatten in den Raum. Mein Gesicht im Spiegel blickt mir mit dunklen Rändern und harten Kanten entgegen.

Dann schreit sie. Die Schatten fressen das Gesicht im Spiegel. Die Welt verschwindet, taucht in Rauch und Feuer und der Schrei gellt weiter in meinen Ohren. Will nicht enden. Gelbe und rote Flammen um mich herum.

Plötzlich Stille. Der Anrufbeantworter springt an und das Schrillen des Telefons verstummt.

Ich knie am Boden und ziehe mich mühsam am Beckenrand in die Höhe.

Als die Bandansage endet, vernehme ich die Stimme meines Therapeuten, der in hastigen Worten die heutige Sitzung absagt und auf nächste Woche verschiebt. Mir wird klar, dass ich den Tag, die Woche ohne Unterstützung rumkriegen muss. Kaltes Wasser hilft mir, ganz ins Jetzt zu kommen. Für Kaffee und Nahrung muss ich in den nächsten Shop. Also ziehe ich mich an und hoffe, dass mich keine weitere Vision erwischt. Als ich mir das Shirt überstreife, kann ich die Sonne über den Dächern aufgehen sehen. Flammendes Orange kippt ins Blutrote, ein Rechteck formt sich aus dem Sonnenkreis. Ich greife nach dem Fensterbrett. Greife zu, um den Halt nicht wieder zu verlieren, weder den physischen noch den psychischen. Dann reiße ich mich los und wende mich ab. Ich nehme die Schlüssel und fliehe aus der Wohnung.

*

Es ist früh und ich laufe durch die Stadt ohne Ziel. Ein Plakat preist ein herzstärkendes Mittel an. Das Bild eines lächelnden, älteren Mannes, mit einem mitten auf die Brust projizierten Herzens. Warum nicht links? Ich laufe an Schaufensterläden vorbei, mit Dingen, die ich nicht wahrnehme. Die ersten Menschen eilen zu ihrer Arbeit. Das sind die Menschen mit den niedrigen Einkommen, den härteren Jobs. In ein paar Stunden folgen die Besserverdienenden.

Ich arbeite nicht mehr, sinnlos. Eine Zeitlang half es mir. Ich konnte mich durch die Konzentration ablenken. Es drängte die Visionen zurück. Doch dann wurde es schlimmer. Jetzt rette ich mich von Sitzung zu Sitzung.

Diesmal nicht. Keine Sitzung. Ich bleibe stehen und mir wird bewusst was das bedeutet. Einige wenige Leute gehen an mir vorbei. Ich stehe fest. Ich stecke fest. Wie ein Fremdkörper in einer Welt, in die ich nicht gehöre. Panik steigt in mir auf. Ich suche nach einem Halt. Ich fange an mich zu drehen. Sehe mein Spiegelbild sich in den Schaufenstern wenden. In irgendeiner Spiegelung blitzt ein Licht auf. Das ist sie! Die Silhouette, das Gesicht. Das muss die Frau aus dem Zug sein. Jede Nacht sehe ich sie. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe. Nur ein weiteres Trugbild! Ich knicke ein. Eine weitere Vision. Ich schließe die Augen und presse die Hände auf die Ohren, obwohl ich weiß, dass es nichts nützen wird.

„Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich helfen?“

Langsam sinkt mein Kopf in Richtung meiner Knie am Boden.

„Können Sie mich hören?“

Etwas berührt meine Schulter, nein Jemand.

„Können sie mich hören?“

Ich reiße meine Augen auf. Das ist sie! Nein, unmöglich! Ich suche Differenzen in ihrem Aussehen. Ich nehme meine Hände vom Kopf und versuche ihre Hände zu greifen. Die Angst in ihrem Gesicht, wie im Traum, meinem Alptraum. Sie muss die Antworten kennen! Gleich müssen die Flammen kommen. Ich schrecke zurück. Weitere Gesichter drängen sich in meine Wahrnehmung. Hände greifen nach mir, richten mich auf und fragen nach meinem Befinden. Sie wird zurückgedrängt. Ich versuche sie nicht in der anwachsenden Menge zu verlieren. Ein energisches Händepaar zwingt mein Gesicht, meinen Blick in ein fremdes Augenpaar.

„Sehen Sie mich an, ich bin Arzt! Können Sie mich verstehen?“

Ich suche ihr Abbild, vergebens. Mein Blick wird erneut in das fremde Gesicht gezwängt.

„Verstehen Sie mich? Verstehen Sie meine Sprache?“

„Ja, kann ich.“

„Geht es Ihnen wieder gut? Nehmen Sie Medikamente?“

„Ich bin in Behandlung. Nur ein kleiner Schwächeanfall. Alles wieder in Ordnung.“

Sie ist weg.

„Sind Sie sicher? Besser Sie gehen zu Ihrem Arzt oder in ein Krankenhaus.“

War sie jemals da?

„Nein, alles in Ordnung, es geht mir wieder gut. Ich gehe zu meinem Arzt.“

-Kapitel 1-                    -Kapitel 3-
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Science Fiction

1.Kapitel -Der Tagtraum-

© David Scholtissek

Ich betrachte den Zug, ohne ihn wirklich zu sehen. Das Wetter hat sich eine kurze Regenpause gegönnt, nur um weitere dunkle Wolkenbänke zusammen zu treiben. Der Tag hat kalt und feucht begonnen und nichts deutet darauf hin, dass sich daran etwas ändern wird. Noch etwa zwei Stunden, bis das Zwielicht des Tages der Dunkelheit der Nacht weichen wird.

Es steigt eine Gruppe von Leuten in den Zug. Mein Blick folgt ihnen. Das Innere des Zuges ist schon erleuchtet und den Fahrgästen, die verstreut in den Wagon sitzen, sieht man die Behaglichkeit der Abteile an. Einige haben noch ihre Berufskleidung an, andere sind auf dem Weg zu der nächsten größeren Stadt und wieder anderen ist anzusehen, dass sie verreisen.

Drei Minuten bis zur Abfahrt. Am Himmel zeichnet sich der nächste Regenguss ab. Ich nehme meine Tasche und richte mich von der Bank auf, froh ebenfalls in den trockenen, warmen Zug zu gelangen. Zeitgleich mit dem Betreten des Innenraumes setzt der Regen ein.

Ich gehe den Gang entlang zu der Bank, die ich für mich ausgesucht habe. Mit einem sanften Ruck fährt der Zug an. Es sind nicht viele Reisende in dem Waggon. Insgesamt mache ich weitere acht Personen aus. Einige lesen, andere blicken aus dem Fenster und zwei scheinen eingenickt zu sein.

Ich schaue auf die Kulisse, die immer schneller werdend an mir vorüber zieht.

In einem kleineren Ort erhasche ich einen Blick in eine Glasscheibe in einem Haus, an dem der Zug vorüberfährt. Es ist das Licht einer Straßenlaterne, das sich darin widerspiegelt. Das Bild bleibt in meinem Gedächtnis haften. Immer wieder spult die Szene in meinem Kopf ab. Längst haben wir die Stelle passiert und sind an dem Ort vorbei. Hartnäckig hält sich das Bild. Bald erkenne ich was, mich stört. In dem Bild aus meinem Gedanken vermisse ich das Original, das sich in dem Fenster spiegelt. Ich muss es Buchstäblich aus dem Gedächtnis gelöscht haben.

Nach einer Weile bemerke ich eine junge Frau im Gang schräg mir gegenüber. Ihre brünetten, langen Haare fallen zu beiden Seiten ihres Gesichtes auf die Seiten in einer gelben Mappe, die sie mit ihren schmalgliedrigen Fingern hält. Ein weiter Parka, der sie wie ein Kokon umgibt, sie einhüllt wie ein zerbrechliches Gut. Ihre Beine schauen eine Handbreit aus der weiten Stoffhose und enden in flachen Sneakers. Sie scheint versunken und sehr in die Lektüre konzentriert. Ich schätze ihr Alter auf Anfang Zwanzig. Mein Blick verweilt lange auf sie. Die Mappe sieht aus als wenn es Aufzeichnungen aus einem Studiengang sind. Ab und an kann ich eine Reaktion beobachten, die Missbilligung oder Erstaunen ausdrückt. Plötzlich senkt sie die Mappe und ich kann deutlich erkennen, dass sie zögerlich aus der Lektüre in die wirkliche Umgebung zurückkehrt. Sie scheint verärgert über die Störung. Ihr Blick hebt sich ein wenig und sie sieht mich direkt an. Ich blicke in dunkle, braune, fast schwarze Augen. Mir wird klar, dass ich die Ursache ihrer Unterbrechung bin. Durch meine Aufmerksamkeit habe ich bei ihr ein Unbehagen ausgelöst, welches sie in ihrer Konzentration stört. Wir blicken uns immer noch an und ich kann beinahe die Frage hören, die ihr auf den Lippen liegt. „Warum störst du mich in meiner Konzentration?“. Verlegen schaue ich zum Fenster. Mein Puls hat sich beschleunigt durch die Erkenntnis, wie unhöflich meine Neugierde ist. Habe ich doch sehr lange eine Unbekannte angestarrt und scheinbar unverfroren gemustert. Ich versuche abzuschätzen wie groß der Zeitraum wohl gewesen ist. Der Zug ist noch immer gut fünf Minuten vom nächsten Bahnhof entfernt. Die Fahrzeit beträgt etwa acht Minuten und ich habe schätzungsweise drei Minuten über das Phänomen mit der Spiegelung nachgedacht. Nein, das ist unmöglich! Wenn dem so ist, bleiben nur Sekunden, in denen ich auf die Frau aufmerksam geworden bin. Mein Zeitgefühl muss mich narren.

Irritiert suche ich wieder den Blickkontakt mit der jungen Frau. Sie schließt die rote Mappe gerade und bindet mit zwei losen Bandenden die offenen Seiten zusammen. Hat mir mein Zeitgefühl erneut einen Streich gespielt? Ich blicke aus dem Fenster. Nein, der Zug ist immer noch viereinhalb Minuten vom Bahnhof entfernt. Ich sehe wieder zu der Frau, die noch immer mit dem Verstauen der roten Mappe beschäftigt ist. Zwischendurch streicht sie sich ihre Haare aus dem Gesicht.

Es ist weder die Bewegung noch die Körperhaltung, die mich fesselt. Und doch hält mich ihr Antlitz in ihrem Bann. Dann lehnt sie sich zurück und blickt aus dem Fenster. Deutlich meine ich die Sehnsucht zu spüren, mit der ihr Blick die vorbei huschende Landschaft streift.

Innerlich kämpfe ich mit mir, ob ich sie anspreche. Meinen Blick zieht sie immer wieder magisch zu sich. Ich greife zu meiner Tasche und will aufstehen.

„Hallo, ist hier noch ein Platz frei?“

Ein junger Mann steht vor der Frau und spricht sie an. Ich blicke an seinem Rücken vorbei und warte auf die Reaktion der Frau. Sie blickt auf und lächelt den Mann an. Wieder streicht sie sich durch die Haare.

„Natürlich,…bitte“.

Der Mann setzt sich ihr gegenüber und stellt seine Tasche auf den Nebensitz. Die Frau tut es ihm gleich und besetzt den noch freien Platz neben ihr, mit ihrer Studientasche.

Ich lasse meine Tasche an ihren Platz zurückgleiten.

„Es ist ein scheußliches Wetter, aber der Regen hat auch etwas Beruhigendes, finden sie nicht auch?“

„Ich mag den Regen, aber ich mag es nicht nass zu werden“.

Der junge Mann lacht auf. Es ist ein ansteckendes Lachen. Das Lächeln der Frau wird ein wenig verlegen, dabei blickt sie kurz zu Boden und sieht dann den Mann wieder an. Ihre Finger spielen an dem Reißverschluss ihres Parkas.

„Hat man so etwas schon gehört? Ehrlich, ich mag es auch nicht durchgeregnet zu werden. Auch kenne ich niemanden, dem so etwas gefällt! Dabei habe ich gleich noch den ganzen Weg durch die Stadt vor mir“.

„Ja, bei dem Gedanken daran ohne einen Schirm durch den Regen zu müssen, wünschte man sich schon zu Hause zu sein. Ich hatte mir heute Morgen einen Schirm eingesteckt, aber ihn dann in der Uni vergessen.“

Der Mann wirft seinen Kopf zurück und lacht abermals. Diesmal fällt die Frau in das Lachen des Mannes ein.

„Dann kann man ja nur hoffen, dass der Regen aufhört und wir beide trockenen Fußes nach Hause kommen. Darf man fragen, was sie studieren?“

„Nun, eigentlich studiere ich nicht mehr. Ich habe heute meine Arbeit abgegeben und will jetzt die Ferien nutzen, um mal auszuspannen.“

Der Zug fährt in den nächsten Bahnhof ein. Ein Schaffner steigt ein und fängt an, bei den Reisenden die Fahrausweise zu kontrollieren. Als er bei der Frau und dem Mann ankommt, geht er, ohne zu zögern an den Beiden vorüber, um mein Ticket zu entwerten. Vielleicht liegt es daran wie ich seine Tätigkeit gemustert habe, so dass er glaubt einen Fahrgast ohne Fahrschein erkannt zu haben. Jedenfalls geht er anschließend, nachdem er sich vergewissert hat, dass alles ordnungsgemäß ist, ohne sich umzusehen oder anzuhalten durch das Abteil in das Nächste.

Der Zug hat wieder Fahrt aufgenommen und fährt weiter seinem nächsten Ziel entgegen, meinem Ziel. Das Gespräch der Beiden geht in der Geräuschkulisse des Zuges unter und ich treibe gedankenlos in den Eindrücken der vorbeihuschenden Motive jenseits des Zugfensters. Als die Geschwindigkeit sinkt, weiß ich nicht einzuordnen wie viel Zeit vergangen ist. Ich nehme meine Tasche und Jacke und gehe langsam zum Ausgang. Dort warte ich an der Ausgangstür, bis der Zug fast steht und drücke dann auf den Öffner. Der Button leuchtet rot auf und signalisiert, dass meine Anforderung bearbeitet wird. Sekunden nach dem Halt des Zuges öffnet sich die Tür und ich trete ins Freie. Ich überquere den Bahnsteig und strebe in die Unterführung, die unter die Gleise zur Bahnhofshalle hinabführt.

Meine Welt zersprengt in tausende Fragmente! Ohrenbetäubende Geräusche, huschende Bilder, sengende Hitze und verzerrende Bilder stürzen auf mich ein. Etwas Gewaltiges drückt mich vorwärts und wirft mich die Treppe hinunter in den Tunnel. Der Geruch nach Feuer und Rauch hüllt mich in eine dunkel werdende Welt.

*

„Hey, hey, bleib bei mir! Nicht wieder die Augen schließen!“

Gott, schmerzte meine Schulter! Nein nicht die Schulter, alles von der Schulter bis zu den Fingern.

„Gut, du hörst mich! Mach die Augen auf, komm schon, öffne deine Augen.“

„Gott, es tut so weh.“

„Ich weiß, ich weiß. Gleich kommt der Arzt. Alles wird gut.“

Der Rauch ist immer noch da. Er macht das Atmen schwer. Ich will meine Augen nicht öffnen. Die Hintergrundgeräusche dringen zu mir durch. Aufgeregte Rufe und Schreie sowie das Brausen von Flammen schlagen überdeutlich auf mich ein. Zu den Schreien und dem Prasseln mischt sich eine Sirene, noch eine, noch viele. Mein zersprengtes Weltbild fügt sich. Irgendetwas Furchtbares muss sich ereignet haben. Etwas, was mein Bewusstsein mit aller Macht von sich schiebt.

„Hier! Wir brauchen einen Arzt! Hierher!“

Jemand fasst an meine Schulter und ich bin wieder weg…

-REALITÄT-              -KAPITEL 2-