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Kurzgeschichte Science Fiction

Spiegelwelt

© Dan Prescot

Professor Doktor Honorius Liebig warf einen letzten Blick in den Spiegel. „Weist Du wirklich ob das richtig ist, was du heute tun wirst?“ Er stellte sich diese Frage jeden morgen. Mittlerweile war sie zu einer rhetorischen Farce verkommen, doch er hielt an diesem Ritual fest. Seine Frau Valeria hatte ihn verlassen, weil er mit seinem Projekt zu sehr beschäftigt war, um zu bemerken wie sie sich auseinanderlebten. Erst als sie ging bemerkte er den Verlust und die Unterstützung, die sie ihm gewesen war. Seit diesem Zeitpunkt vor drei Jahren stellte er sich jeden morgen vor dem Spiegel diese Frage. Natürlich konnte sein Spiegelbild ihm keine Antwort geben. Lautlos wiederholte es nur die Bewegungen getreu seinem Original.

In seinem Labor angekommen, startete Honorius seine Gerätschaften. Wie immer hatte er früher als seine Assistenten mit der Arbeit begonnen. Mit seinen Forschungen berührte er die Grundfeste der Welt. Seine Arbeit war nicht ungefährlich aber wie alle großen Entdeckungen sollte sie zum Wohle der Menschheit sein. Und schließlich hatte er seinen Preis ja schon bezahlt.

Heute wollte er einen entscheidenden Testlauf seiner Theorie wagen. In dem kilometerlangen Teilchenbeschleuniger sollten zwei Isotope aufeinanderprallen und für einen winzigen Augenblick eine Singularität erzeugen, um dann wieder zu zerfallen. Dies war eigentlich nichts Besonderes. In der Theorie.

Im Laufe des Tages spielten sein Team und er das kommende Ereignis in unzähligen Simulationen durch. Dann am späten Abend als nur noch eine kleine Gruppe übriggeblieben war, starteten sie die Apparaturen und wagten das Experiment.

Vor der Versuchskammer erschien ein klares, rundes Abbild des Labors, das alle Gegebenheiten deutlich spiegelte. Honoris stand von seinen Monitoren auf, ging auf dieses Bild zu. Seine Leute starrten immer noch auf die Erscheinung. Als Honorius auf das entstandene Feld zuging, bemerkte er, dass weder er noch seine Leute auf dem Abbild zu sehen waren. Nur das Labor wurde in jeder Einzelheit wiedergegeben. Dann ging er ein wenig zur Seite, um hinter das Bild zu sehen, doch anscheinend bewegte sich das Bild mit. „Das ist kein Bild, sondern eine Blase!“ wisperte er. Eilends umrundete er die Erscheinung und kam wieder zu dem Ausgangspunkt zurück. Vorsichtig streckte er die Hand aus, um dem Bild ganz nahe zu kommen. Ein leichtes Ziehen an den Fingerspitzen deutete auf die Existenz des Feldes hin. Er sah sich um. Seine Leute starrten immer noch beinahe regungslos herüber. Er blickte wieder auf die scheinbare Kugel. Ganz vorsichtig tippte er auf die Oberfläche. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Sonst passierte nichts. Plötzlich fing die Kugel an zu flackern. Erschrocken zog er die Hand zurück und ging einige Schritte zurück. Ein Wabern setzte ein und die Kugel fing an zu schrumpfen. Doch kurz bevor die Kugel in die Versuchskammer verschwand, konnte er sehen wie in dem gespiegelten Labor eine Person erschien. Seine eigene.

Stundenlang hatte sie alle Werte verglichen, ihre Eindrücke geschildert und die Aufzeichnungen durchlaufen lassen. Nichts von alle dem hätte passieren dürfen. Keine vernünftige Erklärung, die mit Gleichungen belegbar wäre, ergab einen Sinn. In den frühen Morgenstunden trennten sie sich und Honorius fuhr mit seinem Wagen zurück zu seiner Wohnung. Müde und aufgewühlt ging er, nachdem er seinen Mantel abgelegt hatte in das Bad. Er schaute in den Spiegel. Wieder liefen die unglaublichen Augenblicke in seinem Labor vor ihm ab. Abgespannt fuhr er sich mit der rechten Hand über sein Gesicht. Sein Spiegelbild tat es ihm gleich. Fast! Er erstarrte. Sein Spiegelbild hatte ebenfalls die rechte Hand am Gesicht. Das Bild, in das er blickte, war nicht spiegelverkehrt! Das konnte unmöglich sein. Irritiert und verunsichert blickte er auf den Hintergrund im Spiegel. Links von ihm waren das Bad und die Armaturen zu sehen und rechts waren der Eingang und die halb geöffnete Tür zu sehen. Hastig drehte er sich um. Aus den Augenwickeln sah er wie sein Spiegelbild sich andersherum drehte. Wie er es im Spiegel gesehen hatte waren links das Bad und die Armaturen und rechts die halb geöffnete Badezimmertür. Sein Herz fing an zu pochen. Mit einem leichten Zittern drehte er sich wieder zurück. In dem Spiegel vollführte sein Abbild die Umdrehung andersherum. Er musste sich am Waschbecken festhalten. Seine Gedanken überschlugen sich während er in das unmögliche Bild vor ihm starrte. Dann sah er wie eine Hand langsam die Badezimmertür weiter aufschob.

„Honorius, Honorius. Du warst wieder bis in die Morgenstunden in deinem Labor. So kann es nicht weitergehen mein Lieber.“

Ihm stockte der Atem. Diese Stimme gehörte zu Valeria, seiner Frau. Langsam drehte er sich um. Er traute seinen Augen kaum, dort stand sie. Im Badmantel und noch verschlafen von der vergangenen Nacht. Wie in seinen Erinnerungen. Vorsichtig streckte er die Hand aus, als ob sie ein Traum wäre, der sich bei der kleinsten Berührung verflüchtigte. Seine Hand schmiegte sich sanft an ihre Wange. „Valeria, bitte bleibe bei mir.“ „Natürlich bleibe ich, mein Lieber, wo sollte ich den hingehen?“

Behutsam zog er sie zu sich, gleich etwas Zerbrechlichem, unermesslich Wertvollem. Bevor er mit seiner Frau das Zimmer verließ, blickte er ein weiteres Mal in den Spiegel. Sein Abbild lächelte zurück und verließ in entgegengesetzter Richtung zu ihm das Zimmer.

Es war nicht seine Welt, gewiss nicht, aber es war sein Zuhause.

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History Kurzgeschichte

Theater

© Dan Prescot

Es herrscht ein Zwielicht in der Gasse. Alte Häuser ein wenig schief, drängen aneinander und geben nur widerwillig den Weg auf das Kopfsteinpflaster frei. Warmes Licht drängt aus grünlichen, kleinen Scheiben der meist zweigeschossigen Häusern mit niedrigen Wohnräumen. Der Geruch von Rauch und Menschen wird fast wahrnehmbar. Nur gedämpft gelangen einige Laute der Bewohner an das Ohr. Ölige Laternen an den Häusern lassen die Szene ehr bedrohlicher erscheinen als Licht zu spenden. Die langen, dunklen Schatten lauern wartend auf den Unvorsichtigen, der einen ungewissen, aber bestimmt keinen frohen Martyrium entgegenstrebt. Ein schwerer, klackender Schritt nähert sich dem Straßenausschnitt.

Ein Mann mit langem, dunklem Mantel und einem Stock, der in einem silbernen Beschlag endet, kommt mit schweren, schlurfenden Schritten, dem der Elan fehlt, näher. Fast widerwillig setzt er einen Fuß vor dem anderen. Die Kleidung des Mannes spiegelt wohlhabendes Bürgertum wider. Der Mann ist gesetzten Alters und tiefe Furchen haben sich von dem Gesehenen in seine Stirn gegraben. Honorius hat eine Stelle am Hofe des Kurfürsten Wilhelm inne.
Unter dem Arm trägt er ein dickes, wertvolles Buch, das er sich von einem befreundeten Gelehrten geliehen hat. Es ist eine lateinische Übersetzung der griechischen Göttersagen. Mit dieser Übersetzung erhofft er sich den Durchbruch in seiner Arbeit, die auch sein Leben bedeutet. Er lehrt nicht nur die griechische Mythologie, er lebt in ihr. Sein ganzes Leben hat er ihr gewidmet. Sie ist eine anspruchsvolle Geliebte. Kaum das sie Platz für die notwendigsten Dinge des Lebens lässt. Und obwohl er ihr sein ganzes Leben geopfert hat fürchtet er die weitere Enttäuschung. Tief in seinem Inneren hat er die Gewissheit längst akzeptiert das er ohne die griechischen Originale, die weit außerhalb seiner Möglichkeiten liegen, sein Lebenswerk vollenden kann.
Als der Mann die vorderste Häuserfront erreicht, tritt ein weiterer Mann in den gelblichen Lichtkegel einer Öllaterne. Benvenuto ist jünger und hagerer. Seine Haare hängen in langen Strähnen in sein Gesicht. Er ist ungepflegt und seine Kleidung alt und geflickt. Das Schicksal hat ihn oft gefordert und selten waren die Alternativen angenehm gewesen, zwischen denen er hätte wählen können. Nun ist er an einen Scheidepunkt angekommen, welcher ihn nur noch die Option zwischen Hungertod und Verbrechen lässt. Seine Augen zeigen den Kampf der Verzweifelung mit der Entschlossenheit. Fiebrig brennt der Schweiß auf seiner Stirn, trotz der Kälte. In seiner Hand glänzt sein letzter Besitz auf dieser Welt. Ein abgewetztes Messer. Schartig und der Schaft notdürftig von einem Stück, groben Holz aufgenommen. Die Bettelschale hatte er am Nachmittag stehen lassen wo sie war. Und obwohl er immer noch mit sich ringt, hat er sich längst an den Abstieg in die eigene Hölle gemacht.

Benvenuto ist am Ende. Wochenlang ist er nun vor den Häschern und dem Gewissen auf der Flucht. Den Mann, den er tötete, folgt ihm in jeden Unterschlupf zu jedem Ort. Tagsüber schweigt er, lauert unter der Oberfläche des Bewusstseins. Nachts wenn Benvenuto sich zurückzieht, um nicht weiter aufzufallen, kommt er hervor. Klagt stumm an, sieht mit seinen gebrochenen Augen in das Herz seines Mörders. Holt jedes Unrecht, jeden Eigennutz Benvenutos hervor und lässt als Gräueltat und Verdammnis sein eigenes Leben ihn verfluchen. Allein der Hölle Grauen lässt ihn noch am Leben hängen. Fürchtet er doch nicht den Tod, sondern den Richter danach. Jeden Tag aufs Neue, flieht er den Ort der letzten Nacht. Einem Bühnenstück gleich durchlebt er seine Tat wieder und wieder. Stirbt Honorius durch seine Hand, nur für sein Verlangen nach einem Stück Brot. Oh, wie freudig würde er den Hungertod willkommen heißen, für die Reinheit seiner Seele.
Doch Benvenutos Gott ist eine grausame Kreatur. Unbarmherzig verstößt er ihn in die Feuergruben. Lässt Benvenuto kein Tor der Barmherzigkeit, ist er doch allwissend, allsehend und unversöhnlich.
Nun steht er vor den Toren der Stadt, die er floh und deren Gassen sich in sein Herz gebrannt haben, jede Nacht aufs Neue. Gleich dem Gang zum Henker schreitet Benvenuto zu der Stadtwache.
„Hier ist der, dessen Hände das Blut des Honorius vergossen. Lasst durch mein verwirktes Leben der Gerechtigkeit Genugtuung widerfahren. Auch wenn ich verstoßen bin, aus des güt´gen Gottes Garten, so soll doch meine Seele Frieden finden, durch das Lächeln Honorius ob meines Henkertodes!“

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Kurzgeschichte

Auf die Plätze, fertig, …tot!

© Dan Presot

Irvin presste die Hand mit der Pistole auf die Schusswunde und stützte sich mit der anderen am Kotflügel des Wagens ab, um nicht zusammenzubrechen. Er würde es nicht schaffen.

Er musste einfach einige Augenblicke verschnaufen, seinen Atem und seinen Puls beruhigen.

Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu dem Zeitpunkt zurück, als er auf diese attraktive Frau gestoßen war. Zunächst war sie ihm natürlich durch ihre athletische Figur aufgefallen. Trotz des weit auftragenden Kleides, das sie trug, konnte man den sportlichen Körper darunter erahnen.

Sie war dunkelhaarig und eigentlich fühlte er sich zu Frauen hingezogen, die eher zierlich und möglichst blond waren.

Aber sie mochte er auf Anhieb. Als er sich ihr näherte, konnte er ihren Duft wahrnehmen. Ihr Geruch war nicht so feminin, wie er es erwartet hatte. Etwas herber, wahrscheinlich war ihr Körper sehr durchtrainiert.

Irvin fasste einen Entschluss und sprach sie an.

 

Ihm wurde kalt. Das Metall des Kotflügels kam ihm eisig vor und sein Blut pulsierte zwischen den Fingern seiner Hand aus seinem Körper heraus. Er versuchte, die Frau in den Lücken des Fichtenwaldes auszumachen. Er hörte ihre Schritte, konnte die Richtung bestimmen aus der die Geräusche zu ihm drangen. Dann nahm er die Hand von der Wunde, es war sowieso eine sinnlose Geste. Die Kugel musste die Baucharterie getroffen haben. Er hielt die Pistole in die Richtung aus der die Geräusche an sein Ohr drangen. Der Arm und die Waffe waren so schwer, kaum das er sie ruhig halten konnte. Da, ein roter Schemen! Er versuchte den Abzug durchzuziehen. Zu langsam!

Die Waffe tanzte in seiner Hand auf und ab.

Verfehlt! Sein zweiter Fehler. Er hatte sie schon einmal unterschätzt. Das hatte ihm die Kugel in seinem Bauch eingebracht. Und nun hatte er sie wieder verfehlt. Es war sinnlos, zu einem weiteren gezielten Schuss würde er nicht mehr kommen. Sicherlich war sie schon aus dem Fichtenwäldchen heraus und würde um Hilfe kreischen die ihr bestimmt auch zuteil werden würde. Er hätte bei seiner bevorzugten Beute bleiben sollen. Ihm wurde schwindlig, egal. Er ließ sich fallen.

Mit seinem letzten Atemzug nahm Irvin den Fichtennadelduft auf. Noch bevor die Geräusche des Waldes zu leise für sein Ohr wurden, hörte er undeutlich eine Polizeisirene.

Das Grün des Waldes bildete sich auf seiner Netzhaut ab, ehe sein Blick brach.

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Kurzgeschichte

Der Traumwald

© Dan Prescot

Wald aus Träumen.

Jede Nacht wandeln wir unter seinem Blätterdach und kosten von seinen Früchten.

Jeder folgt seinem eigenen, scheinbar willkürlichen Pfad. Und doch gehen wir den Weg, den uns unsere Emotionen vorschreiben. Kein Gefühl wird ausgelassen, alles wird ausgelebt, ausgekostet aber auch aufgezwungen. Wir begegnen unseren ärgsten Feinden, unseren tiefsten Ängsten, größten Herausforderungen, unseren wertvollsten Lieben und bevorzugten Vorlieben. Alles ohne Zweifel, ohne Bedacht und ohne Logik. Nur beherrscht vom eigenen Ich. Nackt, ohne den Mantel von Ethik oder Konsequenz.

Aber auch ohne Befangenheit, ohne Scham und Falschheit. Nur das pure Selbst. Ohne Schranken, alters- und zeitlos.

Jede Nacht aufs Neue kosten wir von der Freiheit, die uns eingeräumt wurde. Mal farblos, mal im bunten Surrealismus. Selten sich seiner Selbst bewusst. Aber immer Akteur.

Das Bild, das wir dabei von uns zeichnen, ist das ehrlichste was wir je erfahren werden.

Aufgewacht! Das ich hält Einzug. Der Wald verschwindet im Nebel aus Konsequenz.

Tag für Tag kehren wir in die wirkliche Welt zurück. Wie ein Insekt in einem Bernstein, sind wir wieder eingesperrt in unserer Befangenheit, Gelehrtheit, Ethik und Kultur. Wo ist sie hin, die Freiheit?

Tag um Tag verlieren wir unser Leben an die Realität.

Und dabei verrinnt unsere Zeit, zieht an uns vorbei wie ein Traum.

Dessen sind wir uns so bewusst, wie wir im Traum wissen, dass wir schlafen.

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Gedanken Kurzgeschichte

Augenblicke

© Dan Prescot

Es war eine belebte Straße. Die Mutter mit ihrem Kind an der einen Hand und den voll gepackten Einkaufskorb in der anderen eilte einen weiteren Laden entgegen, um die lange Liste der Besorgungen abzuarbeiten. Das Kind hüpfte fröhlich mit dem Ballon in ihrer Hand um die Wette. Es war ein schöner Ballon, bunt mit vielen Farben die ineinander liefen und an einer Schnur, die ihn am davonfliegen hinderte. Das Kind hatte in seinem Spiel nur Augen für den Ballon.

Den schweren Korb absetzend, um kurz innezuhalten, ließ die Mutter auch die Hand des Kindes los.

Als die Politikerin aus ihrem Hotel trat, um zum heutigen Tagesprogramm zu starten, sah sie den Ballon, der bunt und lustig in den Himmel stieg.

Mit einem Seufzen gingen ihr die glücklichen Momente ihrer eigenen Kindheit durch den Kopf. Als sie in ihren Wagen stieg, bemerkte sie die Sirenen des Unfallwagens schon nicht mehr.

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Kurzgeschichte Mystery

Grenzland

Grenzland
© Dan Prescot

Ich liebe es an der schmalen Linie zwischen den Welten zu wandeln. Mich sanft über den Grad der Rationalität in den Surrealismus treiben zu lassen und die Gesetze in diesem vertrauten und doch stets verdrängten Reich auf die Probe zu stellen.

Es begann vor einer halben Ewigkeit. Inzwischen kenne ich den Wert dieses Wortes.

Ich war auf die Suche nach meiner Identität, experimentierte mit vielen Methoden. Bedenklichen, obskuren, lächerlichen und gefährlichen Möglichkeiten, um meine Bestimmung zu finden.

Ich tauschte mich mit Verbündeten aus. Wir waren die heimlichen Verschwörer, die jeden Tag nach den Strukturen der Welt suchten. Wir lasen die geheimen Bücher, spielten die verbotenen Spiele und waren in einer Subkultur zu Hause, deren Mitglieder einander erkannten, wenn sie sich begegneten.

Immer war einer von uns der Entdeckung seiner Bestimmung nah. Um dann tags darauf festzustellen, nicht den richtigen Pfad gefunden zu haben und alles sich wieder in dem flüchtigen Rauch der Illusion verlor.

Es war ein langer ereignisreicher Tag gewesen, dem eine sehr kurze Nacht vorausgegangen war. Dieser Abend endete wieder nach Mitternacht und ich beschloss, mit dem Ende des gelesenen Kapitels schlafen zu gehen.

Auf meinem Rücken liegend wurde ich daran erinnert, dass Vollmond war, denn mein Schlafzimmer war in ein unwirkliches Zwielicht getaucht. Jeder Gegenstand war zwar deutlich erkennbar, aber fremd und unwirklich.

Ich ließ meinen Blick vom Fenster über die dunkle Deckenlampe zur Tür, entlang der Wand zu meinem Nachttisch und der Lampe darauf wandern.

Jedes dieser Details kannte ich, hatte sie unzählige Male in derselben Weise betrachtet. Und doch, etwas war anders.

Mit diesem Gedanken schlief ich ein.

Und wachte wieder auf!

Suchte erneut das Fenster. Es war nur eine leichte Bewegung mit dem Kopf, mehr nicht. Wanderte dieselbe Strecke mit meinem Blick ab. Als ich den Kopf nach links neigte, sah ich es!

Ich erstarrte. Unfähig, auch nur einen einzigen Finger zu rühren. So sehr ich mich auch bemühte aufzuspringen und fortzulaufen, mein Körper wollte einfach nicht meinen Befehlen gehorchen. Selbst mein Kopf konnte sich nicht von der unwirklichen Szene abwenden.

Neben meinem Nachttisch hockte ein mannsgroßes Wesen! Es war soweit ich das sehen konnte, unbekleidet und dunkelrot. Aus seinem haarlosen Haupt wuchsen Hörner und hinter seinem Rücken, weit über seinen Schädel, konnte ich zusammengefaltete ledrige Flügel erkennen. An deren Spitze nach innen geneigten Krallen thronten.

Er hockte nur da und sah mich in vollkommener Konzentration an. Sein ebenmäßiges Gesicht war bar jeder Emotion. Nach einem nicht enden wollenden Zeitraum, hob er langsam seine rechte Hand und näherte sich damit meiner Stirn.

Mühelos, ohne dass ich irgendetwas spüren konnte, drangen seine Finger in meine Stirn ein!

Ich schrie voller Entsetzen!

Ich schrie aus Leibeskräften!

Und wachte wieder auf!

Ich blickte auf das Fenster. Es war eine kurze, heftige Bewegung mit dem Kopf, um zum Nachttisch zu sehen. Der Platz daneben war leer!

Erst jetzt setzte sich mein Körper in Bewegung und betätigte den Schalter der Lampe.

Das aufflammende Licht brachte Vertrautheit aber keine Sicherheit. Immer noch war ich nicht bereit, der Realität zu vertrauen, die einem solchen Wesen die Existenz verbot!

In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf mehr und der Arbeitstag darauf war nur sehr kurz.

Ich konnte es nicht erwarten, das Erlebte mit meinen Vertrauten zu teilen. Wir sprachen lange über das Ereignis und die sich daraus ergebenen Möglichkeiten.

Noch immer fasziniert mich die Lebendigkeit, mit der dieser Traum vor meinem geistigen Auge auflebt, wenn ich mich erinnere. Seit dieser Zeit erachte ich keinen meiner Träume mehr als gering und versuche mich stets an das darin Erlebte zu erinnern.

Dabei liebe ich es, entlang der schmalen Linie zwischen den Welten zu wandeln. An dem Grenzland, wo wachen und träumen sich vermischen und alles möglich ist.

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Gedanken Kurzgeschichte

Halt

© Dan Prescot

In der Zeit der Entwurzelten, wo bist Du?

Welches ist Dein Halt, an dem Du ruhst?

Der Sinn nach dem Du strebst in Deinem Leben,

ist er es wert, gelebt zu werden?

Die Zeit nimmt immerfort kleine Stücke aus Deinem Leben mit.

Höre nie auf zu fragen, die Fragen Deines Lebens.

Höre niemals auf zu leben, nach den Antworten.

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Kurzgeschichte Leben Reisebericht

Santa Cathalina

Santa Cathalina
© Dan Prescot
© Dan Prescot

Die alte Empfangshalle der Hotels lag verlassen vor mir. Das einst glatt polierte Parkett war verwittert und rau. Mittlerweile löste sich an einigen Stellen bereits einzelne Dielen aus dem kunstvollen Muster der verschiedenfarbigen Holzarbeiten am Boden. Das helle Sonnenlicht zeichnete einen noch größeren Kontrast in die offene Fassade. Langsam ging ich in Richtung des Meeres. Vorbei an dem alten Flügel der standhaft den Jahrzehnten trotzte, dem Tresen mit der rostigen Registrierkasse.

Als ich aus dem Schatten in das gleißende Sonnenlicht trat, strich der Wind träge die warme Festlandluft Afrikas über die Insel. An der zerbrochenen Brüstung der ehemaligen Terrasse spülte das Meer eine unglaubliche Farbenpracht an Fischen, Seeigeln und anderen Meeresbewohnern direkt zu meinen Füßen. Beruhigend und immer gleich, brachen die Wellen an die steinerne Barrikade der Brüstung. Vögel sangen in der Mittagshitze.
Vor fast 30 Jahre flohen die Bewohner von der Insel, um einem Tropensturm zu entkommen. Viele kehrten nicht zurück. Das verfallende Hotel war ein stummer Zeuge dieser verlorenen Zeit. Mit seinen breiten Zufahrtswegen, den Flanierwegen, der Terrasse über dem Meer, den leeren Wohnräumen und der verlassenden Empfangshalle, stellte dies ein in Stein gebautes Mahnmal des Vergangenen dar. Der Tropensturm hatte nicht nur die Menschen von dieser Insel gefegt. Er war ein Bote des Sturmes gewesen, der das Land entvölkerte.
Das helle Lachen von Yves holte mich aus der vergangenen Epoche des Gebäudes zurück. Ich schritt schnell aus, um aus den schwermütigen Gedanken zurück in das Paradies zu gelangen, dass ich heute Morgen betreten hatte. Ein Junge war aufgetaucht. Wie fast alle Menschen in diesem erstaunlichen Land hatte auch er ein fast immer fröhliches Lachen.

© Dan Prescot
© Dan Prescot
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Kurzgeschichte Science Fiction

Interferenz

Pixabay © John Davis

Thomas Reifent schlenderte durch die Stadt. Es war Wochenende und die Geschäfte hatten bis abends geöffnet. Er sah sich die Auslagen in den Schaufenstern an und streifte ohne ein Ziel durch die Fußgängerzone. Eine Zeitlang spielte er mit dem Gedanken, sich in ein Kaffeehaus oder Eiskaffee zu setzen und nur die vorbeigehenden Menschen zu betrachten. Dies war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Doch heute nicht. Er war ruhelos und wollte lieber umherlaufen. An einer Seitengasse blieb er stehen. Eine kitschige Leuchtreklame erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Om-Zeichen, zusammengesetzt aus unzähligen Leuchtdioden, in verschiedenen Farben und wie eine Weihnachtsbeleuchtung blinkend zog ihn in das Geschäft. Es war ein esoterischer Kramladen, an dem zuerst die mit Weihrauch überladene Luft auffiel. Überall standen Vitrinen und Auslagen mit Medaillons, Amuletten, Räucherwerk, Mineralien und kleinen Figuren an Ketten oder Ringen. Thomas war fasziniert von all diesen Dingen. Er ging von Auslage zu Auslage und alles schien mystisch und fremd. Uralte Symbole versprachen Geheimnisse und fremde Kulturen. Ein Amulett zog seinen Blick besonders an. Es war ein Davidstern, der von einem Kreis umrahmt wurde und an dessen Rand jüdische Schriftzeichen eingraviert waren.
Er konnte nicht anders als ihn in die Hand zu nehmen und eingehend zu betrachten. Der Anhänger war messingfarben, etwa Fünfmarkstück groß mit Gravur. Die Vertiefungen waren mit schwarzer Farbe unterlegt.
„Eine schöne Arbeit, nicht wahr?“
Thomas fühlte sich ertappt und schreckte hoch. Eine Frau mittleren Alters schaute ihn lächelnd an.
„Ähm, ja. Wirklich eine schöne Arbeit. Was soll es denn kosten?“
„Fünfzehn Euro. Es ist ein Einzelstück. Wir haben es von einem Zigeuner erworben, zusammen mit einigen anderen Stücken.“
„Ich glaube ich nehme ihn. Haben sie auch eine dazu passende Kette?“
„Dieses Amulett muss an einem Lederband um den Hals getragen werden und soll den Träger vor Bösem schützen.“
Na toll, denkt Thomas, so ein Es-macht-glücklich-und-hilft-gegen-Alles-Amulett. Trotzdem griff er zur Börse und entnahm das Geld.
„Ich hole ein Lederband, dass gehört zum Service.“
Thomas fand sich vor dem Laden wieder, immer noch den Anhänger in der Hand. Die Frau hatte ein schwarzes Lederband durch die Öse gezogen und zu einer Schlaufe gebunden. Noch einige Zeit betrachtete er das Amulett. Dann, mit einer raschen Bewegung legte er es um seinen Hals.
Erst abends, als er im Bad stand, sah er im Spiegel wieder das Medaillon um seinen Hals. Wieder betrachtete er es, nahm es ab und ließ es durch die Hände gleiten. Es war noch warm von seiner Körperwärme und doch war das Metall, aus dem es bestand, gegenwärtig. Dann fiel es ihm aus den Händen und zu Boden. Er griff hinterher und stieß dabei sein Zahnputzglas um. Es zersprang auf den Bodenfliesen. Bevor er es ihm gewahr wurde, hatte er sich geschnitten und Blut tropfte von seinem Fingern. Fluchend hielt er die Hand unter den Wasserhahn in das Waschbecken und wickelte notdürftig einen Lappen um den Schnitt in der Hand.
Nachdem er die Hand verbunden und die Scherben beseitigt hatte, nahm er wieder das Amulett in die Hand.
Das Metall war immer noch warm. Er versuchte sich zu erinnern, wann er den Anhänger von dem Blut gesäubert hatte. Er wusste es nicht mehr. Er zuckte mit den Schultern hängte sich das Medaillon um den Hals und ging in sein Bett. Er schlief sofort ein.

*

Triton!
Er hasste Triton. Er hatte sich für drei Jahre zum Liniendienst gemeldet. Je weiter weg, desto höher war der Verdienst. Er verdiente das meiste Geld. Schließlich war Triton der letzte Außenposten vor dem Nichts. Trotzdem war es nicht genug für Triton. Es waren nicht die Gefahren, die hier draußen die meisten Umbrachten. Es war das Gefühl der Verlassenheit. Das Bewusstsein der Bedeutungslosigkeit.
In der Mine mit ihren Wohneinheiten waren natürlich auch Fenster eingelassen. Alle Fenster zum Planeten hin, waren verhängt. Natürlich, wenn man neu ist, faszinierte einen der Anblick von Neptun. Ein blaugrünes Panorama in dem weiße Schleier langsam über die Oberfläche zogen. Aber die Neugierde schlug spätestens bei dem zweiten, dritten Aufgang von Neptun in Beklemmung um und wenn der Planet den Himmel füllte, alle Sterne verschlungen hatte, kam man sich vor wie ein Fremdkörper. Die Vorhänge vor den Fenstern wurden erst wieder entfernt, wenn die Sonne sichtbar wurde. Von hier aus war sie nur ein Stecknadelkopf groß. Sie erzeugte nicht mal genug Wärme, um das Ammoniakeis zu schmelzen. Ein kleiner heller Punkt unter Millionen. Trotzdem war es die Sonne. Ein Stück Heimat.
Er riss sich zusammen. Er war noch eine halbe Stunde von der Erde entfernt. Es mussten Landungsvorbereitungen getroffen werden. Die Fracht, die er von Triton mitbrachte, wurde dringend erwartet. Es waren Erze und Bohrproben, deren Analyse über die Erweiterung der Station entscheiden sollte.
Sie waren als Konvoi aus 15 Schiffen gestartet und jedes einzelne Schiff war mit der Fracht bis an den Rand beladen. Natürlich, niemand würde ein nicht bis an den Rand beladenes Schiff auf so eine Reise schicken. Die menschliche Fracht bildete nur den geringsten Teil. In jeder Hinsicht! Für den Piloten wurde nur eine winzige Kabine als Privatsphäre zugelassen und alle Passagiere, die mitreisten, wurden in ein künstliches Koma versetzt, „hieberniert“ wie es im Fachjargon hieß. Nicht immer lief alles fehlerfrei ab und nicht immer wachten alle wieder auf.
Trotz allen Widrigkeiten waren hunderttausende Menschen ständig im All unterwegs. Sie arbeiteten, schliefen, lebten und liebten fern der Erde. Was blieb ihnen übrig? Die Erde war übervölkert und die wenigen, die sich Platz leisten konnten, bezahlten Unsummen dafür.
„Orbitalstation Galileo. Die Stardust ruft die Orbitalstation Galileo. Wir kommen mit einem Geleitzug von 11 Schiffen von Triton und sind klar zum Entladen.“
“Hier Orbitalstation Galileo, ganz schön lange Reise, Stardust, schön sie wieder in der Heimat begrüßen zu können. Andockrampen 10 bis 25 sind frei und gehören ihnen.“
„Hier Stardust, schön wieder auf die blaue Heimat schauen zu können. Ich denke wir haben uns den Urlaub verdient.“
„Orbitalstation Galileo hier, Stardust wir müssen die Frage stellen, das wissen sie. Uns liegt eine Reservierung von 15 Schiffen vor. Welcher Art waren die Probleme, die die Ausfälle verursacht haben?“
„Einen Ausfall bei Saturn, einer bei Jupiter, zwei in dem Asteroidengürtel. Ein Schiff ist auf Stand-by, Bergung ist möglich, etwa auf Ebene der Marsbahn. Ich übermittle die Koordinaten.“
Sie hatten vier Schiffe verloren. Vier Schiffe! Selbst für diese Entfernung ist das eine unwahrscheinliche Menge. Der erste den es erwischte war Berger. Seine Nautilus geriet in die Ausläufer der Saturnringe. Um die Reisezeit zu verkürzen war ein Swing-by notwendig. Hier holten sich die Schiffe die notwendige Beschleunigung, um das nächste Zwischenziel, Jupiter, erreichen zu können. Eigentlich ist es ein altes, bewährtes Verfahren, noch aus der Pionierzeit der Raumfahrt. Das Schiff taucht in den Orbit um den Planeten, macht eine oder mehrere Umkreisungen, um dann wieder, mit höherer Beschleunigungsenergie, aus dem Orbit zu entweichen. Das funktioniert prima, wenn man das Swing-By-Manöver nicht in der Bahnebene durchführt und die Trümmer, der Saturnringe einem die Hülle perforieren. Berger wollte zu nah an den Ringen aus dem Orbit ausscheren, weiß der Teufel was ihn geritten hatte. Jedenfalls kostete ihn das Manöver das Leben. Ihn und das Schiff holte sich der Saturn. Bis eine Bergung möglich war, sind die Trümmer aus denen die Nautilus nunmehr bestand, soweit abgesunken, dass ein Entrinnen aus der Gravitation Saturns unmöglich war. Sie würde in der Atmosphäre verglühen.
Svenson erwischte es bei den Jupitermonden. Die Moonlight war das älteste Schiff in der Flotte der Takaschi – Industries für die Svenson arbeitete. Der Strahlenschutz musste unzureichend gewesen sein. Svenson ging es mit Annäherung an Jupiter zusehends schlechter. Ab den Jupitermond Europa, antwortete er gar nicht mehr. Die Niederlassung der Takaschi – Industries auf Ganymed beanspruchte das Schiff für sich und brachte es schließlich auf. Der Tross der Schiffe flog weiter. Pech für Svenson und Pech für die 15 Takaschi – Minenarbeiter, die die Hiebernation nicht vor der Strahlung schützte.
Events und Barkley wurde der Asteroidengürtel zum Verhängnis. Die Vergil und die Summernight wurden beide durch Kollisionen mit den Asteroiden leckgeschlagen. Nachdem Events an Dekompression starb, zerschellt die Vergil nach einer Stunde an einem Asteroiden von etwa 300 Metern Größe, Barkley konnte sein Schiff noch abschotten und sich in die Hiebernation retten. Zwar war die Summernight manövrierunfähig und driftete, jedoch war sie das einzige Schiff, bei dem eine Bergung lohnte und auch Barkley, nebst Passiere noch lebend anzutreffen waren.
„Hier Orbitalstation Galileo, Daten eingetroffen, Andockverriegelungen online, Leitsystem aktiviert. Die nächste Fähre zur Erde ist in 5 Stunden fällig. Willkommen daheim.“
Er brachte das Leitsystem online und schnallte sich ab. Eigentlich war es verboten sich während des Andockens von seinem Pilotencockpit zu entfernen. Jedoch war es eine übliche Handlung, die jeder Pilot machte, um sich für das Verlassen des Schiffes fertig zu machen. Er führte noch einige Checks durch und machte sich auf den Weg zu seiner Kabine. Als er an der Schleuse des Cockpits ankam, musste er sich festhalten. Ihm wurde schwindelig. Sein Blickfeld verengte sich immer mehr und alles schien einen wilden Reigen aufzuführen. Er verlor sein Bewusstsein.

*

Thomas erwachte schweißgebadet. Er wusste nicht, was real war oder was Traum. Er schaute sich um und konnte nur mühsam in die wirkliche Welt zurückfinden. Er schaltete seine Nachttischlampe ein und schaute auf den Wecker. Es war fast 03:00 Uhr. Er setzte sich auf die Bettkante und versuchte die Fragmente des Traumes festzuhalten. Es war so realistisch gewesen, so furchtbar klar. Nichts kam dem gleich, meistens erinnerte er sich kaum oder gar nicht an seine Träume, schenkt ihnen auch keinerlei Beachtung. Doch diesmal war es anders.
Er stand auf, um in der Küche ein Glas Milch zu trinken. Er holte sich ein Trinkglas aus dem Küchenschrank und stellte es auf den Tisch. Als er den Kühlschrank öffnete und die Milchtüte rausnehmen wollte, durchzuckte ihn ein stechender Schmerz in der linken Hand. Er ließ die gerade angehobene Milchtüte wieder los und hielt sich den Arm. Ein eigenartig taubes Gefühl und ein leichtes Kribbeln am Unterarm waren jedoch die einzigen Nachwirkungen des Schmerzes. Als er sich den Unterarm genauer betrachtete, sah er eine leichte Rötung etwa in der Mitte des Unterarms. Mehr konnte er nicht erkennen. Auch waren der Schmerz, die Taubheit und das Kribbeln verschwunden. Nachdenklich nahm er die Milch noch einmal aus dem Kühlschrank. Dieses mal ohne irgendwelche Zwischenfälle. Er schenkte sich ein volles Glas ein und stellte den Behälter wieder zurück. Dann trank er den Glasinhalt aus und betrachtete noch eine Zeitlang das Glas und den Arm, den es hielt. Er kam ihn wie ein Teil eines anderen vor. Er ging zurück in das Schlafzimmer und legte sich in sein Bett. Wieder fiel er fast augenblicklich in den Schlaf.

*

Das erste was er wahrnahm war Schwere. Nach den Monaten in Raum, von den kurzen Beschleunigungs- und Verzögerungsphasen des Schiffes abgesehen, war es das erste was ihm auffiel, das Fehlen der Schwerelosigkeit. Dann erst bemerkte er, dass er in einem Bett lag. Vorsichtig öffnete er seine Augen. Mit dem Licht kam auch das Empfinden für die Geräusche zurück. Geschäftigkeit und Licht erfüllte seine Umgebung. Viel Licht und viele Geräusche. Stimmen, menschliche Stimmen schälten sich langsam aus den vielfältigen Geräuschen. Dann kam die Erinnerung zurück. Das Andockmanöver, das Schiff und die Orbitalstation.
Er musste in der Med-Station liegen. Er versuchte sich aufzusetzen. Kein Problem. Nächster Versuch, Aufstehen. Wieder kein Problem. Ein Arzt eilte auf ihn zu.
„Wie geht es ihnen?“
„Ich glaube soweit gut. Mir ist wahrscheinlich einfach nur schwindelig geworden. Ich denke ich habe nicht ausreichend Übungen gemacht. Als dann die Bremsmanöver einsetzten und ich aufstand, war mein Kreislauf überlastet. Das war alles.“
„Hm, wir haben nichts Schwerwiegendes bei ihnen gefunden. Soweit scheint es also mit ihrer Erklärung übereinzustimmen.
Der Arzt schaute mit einem prüfenden Blick auf seine Diagnoseanzeige. Dann wieder zu seinem Patienten.
„Ok, ich sage ihnen was, ich gebe ihnen eine Passiergenehmigung und sie schauen nach dem Orbitaltransfer zur Erde bei einer Med-Station rein und lassen sich noch mal checken. Was meinen sie?“
„Klingt gut, würde ich sagen.“
„Gut, sie haben noch etwa 2,5 Stunden bis die Fähre zur Erde ablegt. Zeit genug, um die Formalitäten zu erledigen und mit ihrem Firmenkonsortium Kontakt aufzunehmen.“
„In Ordnung, besten Dank Doktor“
„Ich gebe ihnen noch ein kreislaufstabilisierendes Mittel und dann können sie gehen. Netter Anhänger übrigens, den sie da tragen.“
Einen Augenblick überlegte er was der Arzt meinte, dann griff er an seinen Hals.
„Altes Familienerbstück, von irgendeinem Urgroßonkel. Ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, glaube ich.“
Er warf einen kurzen Blick auf den abgewetzten Messinganhänger. Als er ihn von seiner Mutter bekam, wurde der Anhänger von einer silbernen Kette gehalten. Im Lauf der Zeit hatte er sie jedoch gegen eine Lederkordel ersetzt. Er fand damals, dass es besser zu dem alten Amulett passte.

Er saß in dem Passagierraum des Shuttles. Alles war ohne weitere Schwierigkeiten abgelaufen. Die Startsequenz war fast abgeschlossen und er beinahe wieder auf der Erde. Er freute sich auf ein ausgiebiges Bad und ein wenig Small Talk, bei dem man sein Gegenüber von Angesicht zu Angesicht und ohne Bildübertragung sprechen konnte.
„Meine Damen und Herren, wir werden in etwa 4 Stunden in den Niederlanden zur Landung ansetzen. Bis dahin werden sie in ihren Sitzen von der Automatik festgezurrt bleiben. Weiterhin ist es untersagt irgendwelche Gegenstände, gleich welcher Art aus ihren Taschen oder Verriegelungen, wie zum Beispiel Rettungswesten, zu lösen. Bitte entspannen sie sich und genießen sie den Flug.“
Er hatte den Orbitaltransfer schon unzählige Male gemacht, aber es gab immer wieder Leute, die unverbesserlich waren und mit Gegenständen hantieren. Bei dem Wiedereintritt in die Atmosphäre wurden sie zu Geschossen, die ein unkalkulierbares Risiko darstellten. Meistens waren es Wissenschaftler oder Privatpersonen, die sich nicht an die Sicherheitsbestimmungen hielten. Sie unterschätzten einfach die Gefahr, weil man in einen Personenpendler kaum etwas von der mehrfachen Schallgeschwindigkeit mitbekam. Anders als bei den Frachtern, die nur Güter transportierten. Eine leichte Turbulenz verriet ihm den Wiedereintritt in die Atmosphäre. Man hatte mit Absicht keine Sichtfenster in der Außenzelle des Pendlers vorgesehen, um den Passagieren das Aufglühen des Rumpfes zu ersparen. Allzu leicht entstand dabei Unruhe oder Panik. Die Turbulenz verstärkte sich zu einem Rumpeln. Das war ungewöhnlich, er bedauerte vorher nicht einen Blick auf das Wetterbild des Satelliten geworfen zu haben. Solche Schwingungen wie im Augenblick entstanden nur bei größeren Tiefdruckgebieten, wobei dann eher auf einen Transfer verzichtet wurde, als den Verlust eines Passagierschuttels zu riskieren. Mittlerweile wurde die Schwerelosigkeit von einem leichten Ziehen abgelöst. Ein Blick in die Runde verkündete ihm, dass die Passagiere hauptsächlich aus Personen mit wenig Erfahrung in solchen Unternehmungen bestanden. Unruhe kam auf. Er blieb weiterhin gelassen. Die Piloten im Orbitaltranfer gehörten zu den Besten. Nur mehrjährige Erfahrungen auf unterschiedlichen Schiffen erlaubten eine Bewerbung für den Dienst in einem Orbitalpendler. Und die Liste der Bewerbungen war lang, im Vergleich zu den angebotenen Posten.
Mittlerweile drangen die ersten Geräusche der beanspruchten Außenhülle in den Passagierraum. Ein Knacken und Krachen verkündete die Belastung, die durch die stark erhitzte ausgedehnte Außenzelle erzeugt wurde. In den Gesichtern konnte man die Anspannung und entstehende Panik sehen. Dann, mit einem letzten Ruck, ging der Pendler in seine Gleitphase über. Die Geräuschkulisse nahm ab und lediglich ein leichter Ozongeruch verriet die überstandenen Strapazen des Shuttles. Die Gespanntheit aus den Gesichtern der Menschen wich langsam wieder einer gesunden Gesichtsfarbe. Mittlerweile hatte sich auch die normale Erdschwere eingestellt und bei einigen war sogar ein schwaches Lächeln sichtbar. Er schaute auf seine Armbanduhr. Etwa 10 Minuten bis das Landemanöver begann. Ein leichtes Schlingern ließ ihn aufmerken. Sie mussten in eine weitere Unwetterzone eingetreten sein. Ein rascher Blick in die Runde verriet ihm, dass er bisher der einzige war, dem dies auffiel. Er griff mit beiden Händen zu seinen Armlehnen und wappnet sich vor den weiteren Unannehmlichkeiten. Die Maschine sackte mehrere 100 Meter durch. Mit einem heftigen Ruck fassten die Tragflächen wieder in der Atmosphäre. Einige der Passagiere schrien oder stöhnten auf. Ein heftiges Schütteln ging durch die Maschine und ein erneutes Durchsacken. Diesmal begleitet von einem Krachen. `Das ist nicht mehr normal´, dachte er noch. Dann mit einem Schütteln, sackte der Pendler erneut durch und prallte auf! Etwas schlug mit entsetzlicher Kraft auf seinem linken Arm ein. Er spürte wie sein Unterarm brach. Das letzte was er wahrnahm, war das Kreischen und Bersten von Metall. Dann wurde es still und dunkel um ihn.

*

Thomas Reifent erwachte schweißgebadet. Er wusste nicht mehr, ob er oder der Mann aus seinem Traum geschrien hatte. Er hatte noch nie einen Traum erlebt, der sich nicht um ihn drehte oder er wenigsten als Beobachter auftrat. Er schaute auf den Wecker. Es war erst 5:30 Uhr. Aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Also stand er auf und ging in das Bad. Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, um dem Traum zu entfliehen. Es half jedoch nicht viel. Als er in den Spiegel schaute, fiel sein Blick auf das Medaillon. Ohne jeden Zweifel, es war das gleiche messingfarbene Amulett wie im Traum. Nicht so abgewetzt, die Symbole mit schwarzer Farbe unterlegt aber ohne Frage das gleiche Medaillon! Ihm wurde schwindlig. Der Trauminhalt wurde wieder mit aller Macht gegenwärtig. Er klammerte sich an das Waschbecken, um den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren. Nach einer Weile ließ das Gefühl nach. Mit noch weichen Knien ging er in Küche um einen Kaffee zu trinken. Während das Kaffeewasser noch durchlief, überlegte er, wie er der Unwirklichkeit des Traumes entfliehen konnte.

Gleichmäßig verrichtete die Maschine ihre Arbeit. Der Motor war nach den gut 20 Kilometer warm und konnte jetzt einiges vertragen, dachte er. Er hatte die Auffahrt zur Autobahn erreicht und legte sich in die Kurve um auf den Beschleunigungsstreifen zu schwenken. Ein Blick zur Seite verriet ihm dass etwa auf gleicher Höhe ein Lkw fuhr. Er lächelte unter seinem Helm. Nichts war besser um dem Alltag oder unliebsamen Gedanken zu entfliehen als eine kurze Motorradtour. Mit dem Aufrichten aus der Kurve schaltete er einen Gang zurück und drehte den Beschleunigungsgriff nach hinten. Brachial erwachte der Motor aus seinem Dämmerzustand. Für einige Sekunden, als die plötzlichen Beschleunigungskräfte das Hinterrad nach vorne trieben, verlor das Vorderrad den Bodenkontakt. Er hatte das Gas genau dosiert. Das Vorderrad setzte sanft wieder auf den Asphalt auf. Der Lkw war verschwunden, irgendwo weit hinter ihm. Der Drehzahlmesser verriet ihm, dass er sich den 10000 Umdrehungen pro Minute näherte. Zeit zu schalten. Auch den nächsten Gang zog er voll aus. Die Landschaft flog an ihm vorbei. Als er in den letzten Gang schalteten wollte, näherte er sich der 180 km/h. Er zog den Kupplungshebel. Wieder durchfuhr ihn ein stechender Schmerz in dem linken Unterarm. Es dauerte nur Sekundenbruchteile, doch dabei verschaltete er sich und verlor die Kontrolle über die Maschine. Das Hinterrad blockierte und die Maschine stellte sich quer.
Bremsen hatte keinen Sinn mehr, die Beschleunigung trieb das Motorrad weiter quer zur Fahrbahn. Er versuchte verzweifelt die Maschine auf die Seite zu drücken. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung stieß er sich von der Maschine weg. Das Motorrad fing an sich zu überschlagen. Er selbst drehte und rutschte über den Asphalt. Er streckte seine Arme und Beine aus, um ein wenig Kontrolle über seine Richtung zu erlangen. Das letzte was er sah war die Leitplanke, die mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zukam. Er schloss die Augen.

*

Ein gleichmäßiges Piepsen sickerte in sein Bewusstsein. Wie einem lästigen Insekt das auf ihm zu kroch.
Piep!
`Geh weg!´
Piep!
Piep!
Piep!
`Nein, geh weg!´
Piep!
Lauter, es wurde immer lauter! Er versuchte zu schreien und riss die Augen auf. Nur ein Krächzen kam über seine Lippen, zugleich strömte weiches Licht auf ihn ein. Er war orientierungslos und versuchte sich zu erinnern. Jemand beugte sich über ihn. Er versuchte etwas zu sagen. Erneut kamen nur unverständliche Laute dabei heraus.
„Versuchen sie nicht zu reden und bleiben sie ruhig liegen. Sie hatten einen Unfall aber es kommt alles wieder in Ordnung.“
Er entspannte sich ein wenig und schloss erneut die Augen.
„Eine zeitlang stand es nicht gut um sie, aber nun sind sie über den Berg und bald auch wieder auf den Beinen.“
Immer noch wollte die Erinnerung nicht einsetzten. Auf seinem Brustkorb fühlte er die Kühle des Medaillons. Sonst war es warm. Dann, mit aller Macht, drängte das Erlebte in das Bewusstsein!
Das Amulett, der Traum, die Maschine und der Unfall!
`Mein Gott, wie bin ich an der Leitplanke vorbei gekommen? Leitplanken bedeuten immer Verstümmelung!´
Hastig versuchte er seine Finger und Zehen zu bewegen. Links, Rechts, wie immer. Er wurde wieder ruhiger und schloss für einen Moment die Augen.
„Guten Tag, ich bin Professor Demeer. Sie hatten großes Glück.“
Er öffnete wieder die Augen.
„Unser Med-Team hatte seine liebe Mühe sie wieder zurück zu den Lebenden zu holen. Sie hatten schwerste Verbrennungen, ihr linker Arm war ehr abgetrennt als dran, ihr Brustkorb eingedrückt und beide Beine mehrfach mit komplizierten Splitterbrüchen gebrochen.
Ich verstehe einfach nicht, wer die Genehmigung zum Wiedereintritt des Orbiters erteilt hatte. Wahrscheinlich hat ein wichtiges Vorstandsmitglied eine hübsche Summe springen lassen.
Übrigens, ihr Firmenkonsortium hat sich mehrfach nach ihrem Zustand erkundigt. Alle erforderlichen Behandlungen wurden genehmigt und die entstanden Kosten anstandslos beglichen. Wir hatten sie vier Wochen in der Hiebernation. Gratuliere, soviel Glück hat nicht jeder, Herr Reifent.“
Er schloss die Augen. Für einen Augenblick war alles verwirrend. Dann folgte Klarheit!
`Natürlich, bezahlen sie alles, die finden kaum Leute, die diese verfluchte Route fliegen.