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Science Fiction

2.Kapitel -Visionen-

© David Scholtissek

Die Anmut wird in Stücke zerrissen. Die Unterlagen der gelben Mappe wirbeln umher. Die Mappe selbst verwandelt sich in gelbe Flammen, die über die Hände an dem Oberkörper der jungen Frau hinaufzüngeln. Das Gesicht, das sich mir zuwendet, lächelt mich an. Die Flammen wandeln ihre Farbe in Karminrot, umrahmen ihr Gesicht. Dann verschwinden die Flammen und rotes Blut tränkt die Stellen des Körpers, die eben noch von Flammen umhüllt waren. Das Lächeln ist aus dem Gesicht gewischt und Erstaunen, Entsetzen und Angst entstellen die ebenmäßigen Gesichtszüge.

Wie ein Brausen, das immer weiter anwächst, zu einem Donnergrollen, um in das Brummen des Weckers überzugehen, zerplatzt der Alptraum an der Wirklichkeit. Schwer atmend öffne ich die Augen.

Nacht für Nacht zerren mich Alpträume in immer neue Varianten zurück an den Tag vor einem Jahr. Die Wunden sind längst vernarbt. Die Seele aber blutet weiter.

Die Füße aus dem Bett schiebend, setze ich sie vorsichtig auf den Boden. Kalt, gut, real! Ich knete die Schulter. Eine Angewohnheit, mechanisch. Vom Bett abstoßend bewege ich mich in Richtung Badezimmer. Das kalte Licht von der Baddecke zeichnet scharfe Schatten in den Raum. Mein Gesicht im Spiegel blickt mir mit dunklen Rändern und harten Kanten entgegen.

Dann schreit sie. Die Schatten fressen das Gesicht im Spiegel. Die Welt verschwindet, taucht in Rauch und Feuer und der Schrei gellt weiter in meinen Ohren. Will nicht enden. Gelbe und rote Flammen um mich herum.

Plötzlich Stille. Der Anrufbeantworter springt an und das Schrillen des Telefons verstummt.

Ich knie am Boden und ziehe mich mühsam am Beckenrand in die Höhe.

Als die Bandansage endet, vernehme ich die Stimme meines Therapeuten, der in hastigen Worten die heutige Sitzung absagt und auf nächste Woche verschiebt. Mir wird klar, dass ich den Tag, die Woche ohne Unterstützung rumkriegen muss. Kaltes Wasser hilft mir, ganz ins Jetzt zu kommen. Für Kaffee und Nahrung muss ich in den nächsten Shop. Also ziehe ich mich an und hoffe, dass mich keine weitere Vision erwischt. Als ich mir das Shirt überstreife, kann ich die Sonne über den Dächern aufgehen sehen. Flammendes Orange kippt ins Blutrote, ein Rechteck formt sich aus dem Sonnenkreis. Ich greife nach dem Fensterbrett. Greife zu, um den Halt nicht wieder zu verlieren, weder den physischen noch den psychischen. Dann reiße ich mich los und wende mich ab. Ich nehme die Schlüssel und fliehe aus der Wohnung.

*

Es ist früh und ich laufe durch die Stadt ohne Ziel. Ein Plakat preist ein herzstärkendes Mittel an. Das Bild eines lächelnden, älteren Mannes, mit einem mitten auf die Brust projizierten Herzens. Warum nicht links? Ich laufe an Schaufensterläden vorbei, mit Dingen, die ich nicht wahrnehme. Die ersten Menschen eilen zu ihrer Arbeit. Das sind die Menschen mit den niedrigen Einkommen, den härteren Jobs. In ein paar Stunden folgen die Besserverdienenden.

Ich arbeite nicht mehr, sinnlos. Eine Zeitlang half es mir. Ich konnte mich durch die Konzentration ablenken. Es drängte die Visionen zurück. Doch dann wurde es schlimmer. Jetzt rette ich mich von Sitzung zu Sitzung.

Diesmal nicht. Keine Sitzung. Ich bleibe stehen und mir wird bewusst was das bedeutet. Einige wenige Leute gehen an mir vorbei. Ich stehe fest. Ich stecke fest. Wie ein Fremdkörper in einer Welt, in die ich nicht gehöre. Panik steigt in mir auf. Ich suche nach einem Halt. Ich fange an mich zu drehen. Sehe mein Spiegelbild sich in den Schaufenstern wenden. In irgendeiner Spiegelung blitzt ein Licht auf. Das ist sie! Die Silhouette, das Gesicht. Das muss die Frau aus dem Zug sein. Jede Nacht sehe ich sie. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe. Nur ein weiteres Trugbild! Ich knicke ein. Eine weitere Vision. Ich schließe die Augen und presse die Hände auf die Ohren, obwohl ich weiß, dass es nichts nützen wird.

„Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich helfen?“

Langsam sinkt mein Kopf in Richtung meiner Knie am Boden.

„Können Sie mich hören?“

Etwas berührt meine Schulter, nein Jemand.

„Können sie mich hören?“

Ich reiße meine Augen auf. Das ist sie! Nein, unmöglich! Ich suche Differenzen in ihrem Aussehen. Ich nehme meine Hände vom Kopf und versuche ihre Hände zu greifen. Die Angst in ihrem Gesicht, wie im Traum, meinem Alptraum. Sie muss die Antworten kennen! Gleich müssen die Flammen kommen. Ich schrecke zurück. Weitere Gesichter drängen sich in meine Wahrnehmung. Hände greifen nach mir, richten mich auf und fragen nach meinem Befinden. Sie wird zurückgedrängt. Ich versuche sie nicht in der anwachsenden Menge zu verlieren. Ein energisches Händepaar zwingt mein Gesicht, meinen Blick in ein fremdes Augenpaar.

„Sehen Sie mich an, ich bin Arzt! Können Sie mich verstehen?“

Ich suche ihr Abbild, vergebens. Mein Blick wird erneut in das fremde Gesicht gezwängt.

„Verstehen Sie mich? Verstehen Sie meine Sprache?“

„Ja, kann ich.“

„Geht es Ihnen wieder gut? Nehmen Sie Medikamente?“

„Ich bin in Behandlung. Nur ein kleiner Schwächeanfall. Alles wieder in Ordnung.“

Sie ist weg.

„Sind Sie sicher? Besser Sie gehen zu Ihrem Arzt oder in ein Krankenhaus.“

War sie jemals da?

„Nein, alles in Ordnung, es geht mir wieder gut. Ich gehe zu meinem Arzt.“

-Kapitel 1-                    -Kapitel 3-
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Science Fiction

1.Kapitel -Der Tagtraum-

© David Scholtissek

Ich betrachte den Zug, ohne ihn wirklich zu sehen. Das Wetter hat sich eine kurze Regenpause gegönnt, nur um weitere dunkle Wolkenbänke zusammen zu treiben. Der Tag hat kalt und feucht begonnen und nichts deutet darauf hin, dass sich daran etwas ändern wird. Noch etwa zwei Stunden, bis das Zwielicht des Tages der Dunkelheit der Nacht weichen wird.

Es steigt eine Gruppe von Leuten in den Zug. Mein Blick folgt ihnen. Das Innere des Zuges ist schon erleuchtet und den Fahrgästen, die verstreut in den Wagon sitzen, sieht man die Behaglichkeit der Abteile an. Einige haben noch ihre Berufskleidung an, andere sind auf dem Weg zu der nächsten größeren Stadt und wieder anderen ist anzusehen, dass sie verreisen.

Drei Minuten bis zur Abfahrt. Am Himmel zeichnet sich der nächste Regenguss ab. Ich nehme meine Tasche und richte mich von der Bank auf, froh ebenfalls in den trockenen, warmen Zug zu gelangen. Zeitgleich mit dem Betreten des Innenraumes setzt der Regen ein.

Ich gehe den Gang entlang zu der Bank, die ich für mich ausgesucht habe. Mit einem sanften Ruck fährt der Zug an. Es sind nicht viele Reisende in dem Waggon. Insgesamt mache ich weitere acht Personen aus. Einige lesen, andere blicken aus dem Fenster und zwei scheinen eingenickt zu sein.

Ich schaue auf die Kulisse, die immer schneller werdend an mir vorüber zieht.

In einem kleineren Ort erhasche ich einen Blick in eine Glasscheibe in einem Haus, an dem der Zug vorüberfährt. Es ist das Licht einer Straßenlaterne, das sich darin widerspiegelt. Das Bild bleibt in meinem Gedächtnis haften. Immer wieder spult die Szene in meinem Kopf ab. Längst haben wir die Stelle passiert und sind an dem Ort vorbei. Hartnäckig hält sich das Bild. Bald erkenne ich was, mich stört. In dem Bild aus meinem Gedanken vermisse ich das Original, das sich in dem Fenster spiegelt. Ich muss es Buchstäblich aus dem Gedächtnis gelöscht haben.

Nach einer Weile bemerke ich eine junge Frau im Gang schräg mir gegenüber. Ihre brünetten, langen Haare fallen zu beiden Seiten ihres Gesichtes auf die Seiten in einer gelben Mappe, die sie mit ihren schmalgliedrigen Fingern hält. Ein weiter Parka, der sie wie ein Kokon umgibt, sie einhüllt wie ein zerbrechliches Gut. Ihre Beine schauen eine Handbreit aus der weiten Stoffhose und enden in flachen Sneakers. Sie scheint versunken und sehr in die Lektüre konzentriert. Ich schätze ihr Alter auf Anfang Zwanzig. Mein Blick verweilt lange auf sie. Die Mappe sieht aus als wenn es Aufzeichnungen aus einem Studiengang sind. Ab und an kann ich eine Reaktion beobachten, die Missbilligung oder Erstaunen ausdrückt. Plötzlich senkt sie die Mappe und ich kann deutlich erkennen, dass sie zögerlich aus der Lektüre in die wirkliche Umgebung zurückkehrt. Sie scheint verärgert über die Störung. Ihr Blick hebt sich ein wenig und sie sieht mich direkt an. Ich blicke in dunkle, braune, fast schwarze Augen. Mir wird klar, dass ich die Ursache ihrer Unterbrechung bin. Durch meine Aufmerksamkeit habe ich bei ihr ein Unbehagen ausgelöst, welches sie in ihrer Konzentration stört. Wir blicken uns immer noch an und ich kann beinahe die Frage hören, die ihr auf den Lippen liegt. „Warum störst du mich in meiner Konzentration?“. Verlegen schaue ich zum Fenster. Mein Puls hat sich beschleunigt durch die Erkenntnis, wie unhöflich meine Neugierde ist. Habe ich doch sehr lange eine Unbekannte angestarrt und scheinbar unverfroren gemustert. Ich versuche abzuschätzen wie groß der Zeitraum wohl gewesen ist. Der Zug ist noch immer gut fünf Minuten vom nächsten Bahnhof entfernt. Die Fahrzeit beträgt etwa acht Minuten und ich habe schätzungsweise drei Minuten über das Phänomen mit der Spiegelung nachgedacht. Nein, das ist unmöglich! Wenn dem so ist, bleiben nur Sekunden, in denen ich auf die Frau aufmerksam geworden bin. Mein Zeitgefühl muss mich narren.

Irritiert suche ich wieder den Blickkontakt mit der jungen Frau. Sie schließt die rote Mappe gerade und bindet mit zwei losen Bandenden die offenen Seiten zusammen. Hat mir mein Zeitgefühl erneut einen Streich gespielt? Ich blicke aus dem Fenster. Nein, der Zug ist immer noch viereinhalb Minuten vom Bahnhof entfernt. Ich sehe wieder zu der Frau, die noch immer mit dem Verstauen der roten Mappe beschäftigt ist. Zwischendurch streicht sie sich ihre Haare aus dem Gesicht.

Es ist weder die Bewegung noch die Körperhaltung, die mich fesselt. Und doch hält mich ihr Antlitz in ihrem Bann. Dann lehnt sie sich zurück und blickt aus dem Fenster. Deutlich meine ich die Sehnsucht zu spüren, mit der ihr Blick die vorbei huschende Landschaft streift.

Innerlich kämpfe ich mit mir, ob ich sie anspreche. Meinen Blick zieht sie immer wieder magisch zu sich. Ich greife zu meiner Tasche und will aufstehen.

„Hallo, ist hier noch ein Platz frei?“

Ein junger Mann steht vor der Frau und spricht sie an. Ich blicke an seinem Rücken vorbei und warte auf die Reaktion der Frau. Sie blickt auf und lächelt den Mann an. Wieder streicht sie sich durch die Haare.

„Natürlich,…bitte“.

Der Mann setzt sich ihr gegenüber und stellt seine Tasche auf den Nebensitz. Die Frau tut es ihm gleich und besetzt den noch freien Platz neben ihr, mit ihrer Studientasche.

Ich lasse meine Tasche an ihren Platz zurückgleiten.

„Es ist ein scheußliches Wetter, aber der Regen hat auch etwas Beruhigendes, finden sie nicht auch?“

„Ich mag den Regen, aber ich mag es nicht nass zu werden“.

Der junge Mann lacht auf. Es ist ein ansteckendes Lachen. Das Lächeln der Frau wird ein wenig verlegen, dabei blickt sie kurz zu Boden und sieht dann den Mann wieder an. Ihre Finger spielen an dem Reißverschluss ihres Parkas.

„Hat man so etwas schon gehört? Ehrlich, ich mag es auch nicht durchgeregnet zu werden. Auch kenne ich niemanden, dem so etwas gefällt! Dabei habe ich gleich noch den ganzen Weg durch die Stadt vor mir“.

„Ja, bei dem Gedanken daran ohne einen Schirm durch den Regen zu müssen, wünschte man sich schon zu Hause zu sein. Ich hatte mir heute Morgen einen Schirm eingesteckt, aber ihn dann in der Uni vergessen.“

Der Mann wirft seinen Kopf zurück und lacht abermals. Diesmal fällt die Frau in das Lachen des Mannes ein.

„Dann kann man ja nur hoffen, dass der Regen aufhört und wir beide trockenen Fußes nach Hause kommen. Darf man fragen, was sie studieren?“

„Nun, eigentlich studiere ich nicht mehr. Ich habe heute meine Arbeit abgegeben und will jetzt die Ferien nutzen, um mal auszuspannen.“

Der Zug fährt in den nächsten Bahnhof ein. Ein Schaffner steigt ein und fängt an, bei den Reisenden die Fahrausweise zu kontrollieren. Als er bei der Frau und dem Mann ankommt, geht er, ohne zu zögern an den Beiden vorüber, um mein Ticket zu entwerten. Vielleicht liegt es daran wie ich seine Tätigkeit gemustert habe, so dass er glaubt einen Fahrgast ohne Fahrschein erkannt zu haben. Jedenfalls geht er anschließend, nachdem er sich vergewissert hat, dass alles ordnungsgemäß ist, ohne sich umzusehen oder anzuhalten durch das Abteil in das Nächste.

Der Zug hat wieder Fahrt aufgenommen und fährt weiter seinem nächsten Ziel entgegen, meinem Ziel. Das Gespräch der Beiden geht in der Geräuschkulisse des Zuges unter und ich treibe gedankenlos in den Eindrücken der vorbeihuschenden Motive jenseits des Zugfensters. Als die Geschwindigkeit sinkt, weiß ich nicht einzuordnen wie viel Zeit vergangen ist. Ich nehme meine Tasche und Jacke und gehe langsam zum Ausgang. Dort warte ich an der Ausgangstür, bis der Zug fast steht und drücke dann auf den Öffner. Der Button leuchtet rot auf und signalisiert, dass meine Anforderung bearbeitet wird. Sekunden nach dem Halt des Zuges öffnet sich die Tür und ich trete ins Freie. Ich überquere den Bahnsteig und strebe in die Unterführung, die unter die Gleise zur Bahnhofshalle hinabführt.

Meine Welt zersprengt in tausende Fragmente! Ohrenbetäubende Geräusche, huschende Bilder, sengende Hitze und verzerrende Bilder stürzen auf mich ein. Etwas Gewaltiges drückt mich vorwärts und wirft mich die Treppe hinunter in den Tunnel. Der Geruch nach Feuer und Rauch hüllt mich in eine dunkel werdende Welt.

*

„Hey, hey, bleib bei mir! Nicht wieder die Augen schließen!“

Gott, schmerzte meine Schulter! Nein nicht die Schulter, alles von der Schulter bis zu den Fingern.

„Gut, du hörst mich! Mach die Augen auf, komm schon, öffne deine Augen.“

„Gott, es tut so weh.“

„Ich weiß, ich weiß. Gleich kommt der Arzt. Alles wird gut.“

Der Rauch ist immer noch da. Er macht das Atmen schwer. Ich will meine Augen nicht öffnen. Die Hintergrundgeräusche dringen zu mir durch. Aufgeregte Rufe und Schreie sowie das Brausen von Flammen schlagen überdeutlich auf mich ein. Zu den Schreien und dem Prasseln mischt sich eine Sirene, noch eine, noch viele. Mein zersprengtes Weltbild fügt sich. Irgendetwas Furchtbares muss sich ereignet haben. Etwas, was mein Bewusstsein mit aller Macht von sich schiebt.

„Hier! Wir brauchen einen Arzt! Hierher!“

Jemand fasst an meine Schulter und ich bin wieder weg…

-REALITÄT-              -KAPITEL 2-
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Lovestory Science Fiction

Realität

© David Scholtissek

Musik: ©Joe Palm “Througt the storm”

Was wäre wenn die Realität nicht so fest ist wie wir glauben? Wenn Zeit und Materie oszillieren, um die eigene Wahrnehmung?
Laurent lebt mit Ellen zusammen.
Und mit Aurora.
Ohne dass die Drei voneinander wissen. Doch Laurent muss sich entscheiden. Schafft er eine Realität mit Ellen, seiner Liebe, dann stirbt Aurora. Bleibt er bei Aurora, begegnet er Ellen niemals.

1.Kapitel -Der Tagtraum-

2.Kapitel -Visionen-

3.Kapitel -Die Fährte-

4.Kapitel -Konvaleszenz-

5.Kapitel -Die Information-

6.Kapitel -Wicca-

7.Kapitel -Transfer-

8.Kapitel -Die Morgenröte-

9.Kapitel -Der Magier-

10.Kapitel -Training-

11.Kapitel -Aufbau-

12.Kapitel -Thesen-

13.Kapitel -Der Drift-

14.Kapitel -Epilog-

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Kurzgeschichte Science Fiction

Spiegelwelt

© Dan Prescot

Professor Doktor Honorius Liebig warf einen letzten Blick in den Spiegel. „Weist Du wirklich ob das richtig ist, was du heute tun wirst?“ Er stellte sich diese Frage jeden morgen. Mittlerweile war sie zu einer rhetorischen Farce verkommen, doch er hielt an diesem Ritual fest. Seine Frau Valeria hatte ihn verlassen, weil er mit seinem Projekt zu sehr beschäftigt war, um zu bemerken wie sie sich auseinanderlebten. Erst als sie ging bemerkte er den Verlust und die Unterstützung, die sie ihm gewesen war. Seit diesem Zeitpunkt vor drei Jahren stellte er sich jeden morgen vor dem Spiegel diese Frage. Natürlich konnte sein Spiegelbild ihm keine Antwort geben. Lautlos wiederholte es nur die Bewegungen getreu seinem Original.

In seinem Labor angekommen, startete Honorius seine Gerätschaften. Wie immer hatte er früher als seine Assistenten mit der Arbeit begonnen. Mit seinen Forschungen berührte er die Grundfeste der Welt. Seine Arbeit war nicht ungefährlich aber wie alle großen Entdeckungen sollte sie zum Wohle der Menschheit sein. Und schließlich hatte er seinen Preis ja schon bezahlt.

Heute wollte er einen entscheidenden Testlauf seiner Theorie wagen. In dem kilometerlangen Teilchenbeschleuniger sollten zwei Isotope aufeinanderprallen und für einen winzigen Augenblick eine Singularität erzeugen, um dann wieder zu zerfallen. Dies war eigentlich nichts Besonderes. In der Theorie.

Im Laufe des Tages spielten sein Team und er das kommende Ereignis in unzähligen Simulationen durch. Dann am späten Abend als nur noch eine kleine Gruppe übriggeblieben war, starteten sie die Apparaturen und wagten das Experiment.

Vor der Versuchskammer erschien ein klares, rundes Abbild des Labors, das alle Gegebenheiten deutlich spiegelte. Honoris stand von seinen Monitoren auf, ging auf dieses Bild zu. Seine Leute starrten immer noch auf die Erscheinung. Als Honorius auf das entstandene Feld zuging, bemerkte er, dass weder er noch seine Leute auf dem Abbild zu sehen waren. Nur das Labor wurde in jeder Einzelheit wiedergegeben. Dann ging er ein wenig zur Seite, um hinter das Bild zu sehen, doch anscheinend bewegte sich das Bild mit. „Das ist kein Bild, sondern eine Blase!“ wisperte er. Eilends umrundete er die Erscheinung und kam wieder zu dem Ausgangspunkt zurück. Vorsichtig streckte er die Hand aus, um dem Bild ganz nahe zu kommen. Ein leichtes Ziehen an den Fingerspitzen deutete auf die Existenz des Feldes hin. Er sah sich um. Seine Leute starrten immer noch beinahe regungslos herüber. Er blickte wieder auf die scheinbare Kugel. Ganz vorsichtig tippte er auf die Oberfläche. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Sonst passierte nichts. Plötzlich fing die Kugel an zu flackern. Erschrocken zog er die Hand zurück und ging einige Schritte zurück. Ein Wabern setzte ein und die Kugel fing an zu schrumpfen. Doch kurz bevor die Kugel in die Versuchskammer verschwand, konnte er sehen wie in dem gespiegelten Labor eine Person erschien. Seine eigene.

Stundenlang hatte sie alle Werte verglichen, ihre Eindrücke geschildert und die Aufzeichnungen durchlaufen lassen. Nichts von alle dem hätte passieren dürfen. Keine vernünftige Erklärung, die mit Gleichungen belegbar wäre, ergab einen Sinn. In den frühen Morgenstunden trennten sie sich und Honorius fuhr mit seinem Wagen zurück zu seiner Wohnung. Müde und aufgewühlt ging er, nachdem er seinen Mantel abgelegt hatte in das Bad. Er schaute in den Spiegel. Wieder liefen die unglaublichen Augenblicke in seinem Labor vor ihm ab. Abgespannt fuhr er sich mit der rechten Hand über sein Gesicht. Sein Spiegelbild tat es ihm gleich. Fast! Er erstarrte. Sein Spiegelbild hatte ebenfalls die rechte Hand am Gesicht. Das Bild, in das er blickte, war nicht spiegelverkehrt! Das konnte unmöglich sein. Irritiert und verunsichert blickte er auf den Hintergrund im Spiegel. Links von ihm waren das Bad und die Armaturen zu sehen und rechts waren der Eingang und die halb geöffnete Tür zu sehen. Hastig drehte er sich um. Aus den Augenwickeln sah er wie sein Spiegelbild sich andersherum drehte. Wie er es im Spiegel gesehen hatte waren links das Bad und die Armaturen und rechts die halb geöffnete Badezimmertür. Sein Herz fing an zu pochen. Mit einem leichten Zittern drehte er sich wieder zurück. In dem Spiegel vollführte sein Abbild die Umdrehung andersherum. Er musste sich am Waschbecken festhalten. Seine Gedanken überschlugen sich während er in das unmögliche Bild vor ihm starrte. Dann sah er wie eine Hand langsam die Badezimmertür weiter aufschob.

„Honorius, Honorius. Du warst wieder bis in die Morgenstunden in deinem Labor. So kann es nicht weitergehen mein Lieber.“

Ihm stockte der Atem. Diese Stimme gehörte zu Valeria, seiner Frau. Langsam drehte er sich um. Er traute seinen Augen kaum, dort stand sie. Im Badmantel und noch verschlafen von der vergangenen Nacht. Wie in seinen Erinnerungen. Vorsichtig streckte er die Hand aus, als ob sie ein Traum wäre, der sich bei der kleinsten Berührung verflüchtigte. Seine Hand schmiegte sich sanft an ihre Wange. „Valeria, bitte bleibe bei mir.“ „Natürlich bleibe ich, mein Lieber, wo sollte ich den hingehen?“

Behutsam zog er sie zu sich, gleich etwas Zerbrechlichem, unermesslich Wertvollem. Bevor er mit seiner Frau das Zimmer verließ, blickte er ein weiteres Mal in den Spiegel. Sein Abbild lächelte zurück und verließ in entgegengesetzter Richtung zu ihm das Zimmer.

Es war nicht seine Welt, gewiss nicht, aber es war sein Zuhause.

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Kurzgeschichte Science Fiction

Interferenz

Pixabay © John Davis

Thomas Reifent schlenderte durch die Stadt. Es war Wochenende und die Geschäfte hatten bis abends geöffnet. Er sah sich die Auslagen in den Schaufenstern an und streifte ohne ein Ziel durch die Fußgängerzone. Eine Zeitlang spielte er mit dem Gedanken, sich in ein Kaffeehaus oder Eiskaffee zu setzen und nur die vorbeigehenden Menschen zu betrachten. Dies war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Doch heute nicht. Er war ruhelos und wollte lieber umherlaufen. An einer Seitengasse blieb er stehen. Eine kitschige Leuchtreklame erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Om-Zeichen, zusammengesetzt aus unzähligen Leuchtdioden, in verschiedenen Farben und wie eine Weihnachtsbeleuchtung blinkend zog ihn in das Geschäft. Es war ein esoterischer Kramladen, an dem zuerst die mit Weihrauch überladene Luft auffiel. Überall standen Vitrinen und Auslagen mit Medaillons, Amuletten, Räucherwerk, Mineralien und kleinen Figuren an Ketten oder Ringen. Thomas war fasziniert von all diesen Dingen. Er ging von Auslage zu Auslage und alles schien mystisch und fremd. Uralte Symbole versprachen Geheimnisse und fremde Kulturen. Ein Amulett zog seinen Blick besonders an. Es war ein Davidstern, der von einem Kreis umrahmt wurde und an dessen Rand jüdische Schriftzeichen eingraviert waren.
Er konnte nicht anders als ihn in die Hand zu nehmen und eingehend zu betrachten. Der Anhänger war messingfarben, etwa Fünfmarkstück groß mit Gravur. Die Vertiefungen waren mit schwarzer Farbe unterlegt.
„Eine schöne Arbeit, nicht wahr?“
Thomas fühlte sich ertappt und schreckte hoch. Eine Frau mittleren Alters schaute ihn lächelnd an.
„Ähm, ja. Wirklich eine schöne Arbeit. Was soll es denn kosten?“
„Fünfzehn Euro. Es ist ein Einzelstück. Wir haben es von einem Zigeuner erworben, zusammen mit einigen anderen Stücken.“
„Ich glaube ich nehme ihn. Haben sie auch eine dazu passende Kette?“
„Dieses Amulett muss an einem Lederband um den Hals getragen werden und soll den Träger vor Bösem schützen.“
Na toll, denkt Thomas, so ein Es-macht-glücklich-und-hilft-gegen-Alles-Amulett. Trotzdem griff er zur Börse und entnahm das Geld.
„Ich hole ein Lederband, dass gehört zum Service.“
Thomas fand sich vor dem Laden wieder, immer noch den Anhänger in der Hand. Die Frau hatte ein schwarzes Lederband durch die Öse gezogen und zu einer Schlaufe gebunden. Noch einige Zeit betrachtete er das Amulett. Dann, mit einer raschen Bewegung legte er es um seinen Hals.
Erst abends, als er im Bad stand, sah er im Spiegel wieder das Medaillon um seinen Hals. Wieder betrachtete er es, nahm es ab und ließ es durch die Hände gleiten. Es war noch warm von seiner Körperwärme und doch war das Metall, aus dem es bestand, gegenwärtig. Dann fiel es ihm aus den Händen und zu Boden. Er griff hinterher und stieß dabei sein Zahnputzglas um. Es zersprang auf den Bodenfliesen. Bevor er es ihm gewahr wurde, hatte er sich geschnitten und Blut tropfte von seinem Fingern. Fluchend hielt er die Hand unter den Wasserhahn in das Waschbecken und wickelte notdürftig einen Lappen um den Schnitt in der Hand.
Nachdem er die Hand verbunden und die Scherben beseitigt hatte, nahm er wieder das Amulett in die Hand.
Das Metall war immer noch warm. Er versuchte sich zu erinnern, wann er den Anhänger von dem Blut gesäubert hatte. Er wusste es nicht mehr. Er zuckte mit den Schultern hängte sich das Medaillon um den Hals und ging in sein Bett. Er schlief sofort ein.

*

Triton!
Er hasste Triton. Er hatte sich für drei Jahre zum Liniendienst gemeldet. Je weiter weg, desto höher war der Verdienst. Er verdiente das meiste Geld. Schließlich war Triton der letzte Außenposten vor dem Nichts. Trotzdem war es nicht genug für Triton. Es waren nicht die Gefahren, die hier draußen die meisten Umbrachten. Es war das Gefühl der Verlassenheit. Das Bewusstsein der Bedeutungslosigkeit.
In der Mine mit ihren Wohneinheiten waren natürlich auch Fenster eingelassen. Alle Fenster zum Planeten hin, waren verhängt. Natürlich, wenn man neu ist, faszinierte einen der Anblick von Neptun. Ein blaugrünes Panorama in dem weiße Schleier langsam über die Oberfläche zogen. Aber die Neugierde schlug spätestens bei dem zweiten, dritten Aufgang von Neptun in Beklemmung um und wenn der Planet den Himmel füllte, alle Sterne verschlungen hatte, kam man sich vor wie ein Fremdkörper. Die Vorhänge vor den Fenstern wurden erst wieder entfernt, wenn die Sonne sichtbar wurde. Von hier aus war sie nur ein Stecknadelkopf groß. Sie erzeugte nicht mal genug Wärme, um das Ammoniakeis zu schmelzen. Ein kleiner heller Punkt unter Millionen. Trotzdem war es die Sonne. Ein Stück Heimat.
Er riss sich zusammen. Er war noch eine halbe Stunde von der Erde entfernt. Es mussten Landungsvorbereitungen getroffen werden. Die Fracht, die er von Triton mitbrachte, wurde dringend erwartet. Es waren Erze und Bohrproben, deren Analyse über die Erweiterung der Station entscheiden sollte.
Sie waren als Konvoi aus 15 Schiffen gestartet und jedes einzelne Schiff war mit der Fracht bis an den Rand beladen. Natürlich, niemand würde ein nicht bis an den Rand beladenes Schiff auf so eine Reise schicken. Die menschliche Fracht bildete nur den geringsten Teil. In jeder Hinsicht! Für den Piloten wurde nur eine winzige Kabine als Privatsphäre zugelassen und alle Passagiere, die mitreisten, wurden in ein künstliches Koma versetzt, „hieberniert“ wie es im Fachjargon hieß. Nicht immer lief alles fehlerfrei ab und nicht immer wachten alle wieder auf.
Trotz allen Widrigkeiten waren hunderttausende Menschen ständig im All unterwegs. Sie arbeiteten, schliefen, lebten und liebten fern der Erde. Was blieb ihnen übrig? Die Erde war übervölkert und die wenigen, die sich Platz leisten konnten, bezahlten Unsummen dafür.
„Orbitalstation Galileo. Die Stardust ruft die Orbitalstation Galileo. Wir kommen mit einem Geleitzug von 11 Schiffen von Triton und sind klar zum Entladen.“
“Hier Orbitalstation Galileo, ganz schön lange Reise, Stardust, schön sie wieder in der Heimat begrüßen zu können. Andockrampen 10 bis 25 sind frei und gehören ihnen.“
„Hier Stardust, schön wieder auf die blaue Heimat schauen zu können. Ich denke wir haben uns den Urlaub verdient.“
„Orbitalstation Galileo hier, Stardust wir müssen die Frage stellen, das wissen sie. Uns liegt eine Reservierung von 15 Schiffen vor. Welcher Art waren die Probleme, die die Ausfälle verursacht haben?“
„Einen Ausfall bei Saturn, einer bei Jupiter, zwei in dem Asteroidengürtel. Ein Schiff ist auf Stand-by, Bergung ist möglich, etwa auf Ebene der Marsbahn. Ich übermittle die Koordinaten.“
Sie hatten vier Schiffe verloren. Vier Schiffe! Selbst für diese Entfernung ist das eine unwahrscheinliche Menge. Der erste den es erwischte war Berger. Seine Nautilus geriet in die Ausläufer der Saturnringe. Um die Reisezeit zu verkürzen war ein Swing-by notwendig. Hier holten sich die Schiffe die notwendige Beschleunigung, um das nächste Zwischenziel, Jupiter, erreichen zu können. Eigentlich ist es ein altes, bewährtes Verfahren, noch aus der Pionierzeit der Raumfahrt. Das Schiff taucht in den Orbit um den Planeten, macht eine oder mehrere Umkreisungen, um dann wieder, mit höherer Beschleunigungsenergie, aus dem Orbit zu entweichen. Das funktioniert prima, wenn man das Swing-By-Manöver nicht in der Bahnebene durchführt und die Trümmer, der Saturnringe einem die Hülle perforieren. Berger wollte zu nah an den Ringen aus dem Orbit ausscheren, weiß der Teufel was ihn geritten hatte. Jedenfalls kostete ihn das Manöver das Leben. Ihn und das Schiff holte sich der Saturn. Bis eine Bergung möglich war, sind die Trümmer aus denen die Nautilus nunmehr bestand, soweit abgesunken, dass ein Entrinnen aus der Gravitation Saturns unmöglich war. Sie würde in der Atmosphäre verglühen.
Svenson erwischte es bei den Jupitermonden. Die Moonlight war das älteste Schiff in der Flotte der Takaschi – Industries für die Svenson arbeitete. Der Strahlenschutz musste unzureichend gewesen sein. Svenson ging es mit Annäherung an Jupiter zusehends schlechter. Ab den Jupitermond Europa, antwortete er gar nicht mehr. Die Niederlassung der Takaschi – Industries auf Ganymed beanspruchte das Schiff für sich und brachte es schließlich auf. Der Tross der Schiffe flog weiter. Pech für Svenson und Pech für die 15 Takaschi – Minenarbeiter, die die Hiebernation nicht vor der Strahlung schützte.
Events und Barkley wurde der Asteroidengürtel zum Verhängnis. Die Vergil und die Summernight wurden beide durch Kollisionen mit den Asteroiden leckgeschlagen. Nachdem Events an Dekompression starb, zerschellt die Vergil nach einer Stunde an einem Asteroiden von etwa 300 Metern Größe, Barkley konnte sein Schiff noch abschotten und sich in die Hiebernation retten. Zwar war die Summernight manövrierunfähig und driftete, jedoch war sie das einzige Schiff, bei dem eine Bergung lohnte und auch Barkley, nebst Passiere noch lebend anzutreffen waren.
„Hier Orbitalstation Galileo, Daten eingetroffen, Andockverriegelungen online, Leitsystem aktiviert. Die nächste Fähre zur Erde ist in 5 Stunden fällig. Willkommen daheim.“
Er brachte das Leitsystem online und schnallte sich ab. Eigentlich war es verboten sich während des Andockens von seinem Pilotencockpit zu entfernen. Jedoch war es eine übliche Handlung, die jeder Pilot machte, um sich für das Verlassen des Schiffes fertig zu machen. Er führte noch einige Checks durch und machte sich auf den Weg zu seiner Kabine. Als er an der Schleuse des Cockpits ankam, musste er sich festhalten. Ihm wurde schwindelig. Sein Blickfeld verengte sich immer mehr und alles schien einen wilden Reigen aufzuführen. Er verlor sein Bewusstsein.

*

Thomas erwachte schweißgebadet. Er wusste nicht, was real war oder was Traum. Er schaute sich um und konnte nur mühsam in die wirkliche Welt zurückfinden. Er schaltete seine Nachttischlampe ein und schaute auf den Wecker. Es war fast 03:00 Uhr. Er setzte sich auf die Bettkante und versuchte die Fragmente des Traumes festzuhalten. Es war so realistisch gewesen, so furchtbar klar. Nichts kam dem gleich, meistens erinnerte er sich kaum oder gar nicht an seine Träume, schenkt ihnen auch keinerlei Beachtung. Doch diesmal war es anders.
Er stand auf, um in der Küche ein Glas Milch zu trinken. Er holte sich ein Trinkglas aus dem Küchenschrank und stellte es auf den Tisch. Als er den Kühlschrank öffnete und die Milchtüte rausnehmen wollte, durchzuckte ihn ein stechender Schmerz in der linken Hand. Er ließ die gerade angehobene Milchtüte wieder los und hielt sich den Arm. Ein eigenartig taubes Gefühl und ein leichtes Kribbeln am Unterarm waren jedoch die einzigen Nachwirkungen des Schmerzes. Als er sich den Unterarm genauer betrachtete, sah er eine leichte Rötung etwa in der Mitte des Unterarms. Mehr konnte er nicht erkennen. Auch waren der Schmerz, die Taubheit und das Kribbeln verschwunden. Nachdenklich nahm er die Milch noch einmal aus dem Kühlschrank. Dieses mal ohne irgendwelche Zwischenfälle. Er schenkte sich ein volles Glas ein und stellte den Behälter wieder zurück. Dann trank er den Glasinhalt aus und betrachtete noch eine Zeitlang das Glas und den Arm, den es hielt. Er kam ihn wie ein Teil eines anderen vor. Er ging zurück in das Schlafzimmer und legte sich in sein Bett. Wieder fiel er fast augenblicklich in den Schlaf.

*

Das erste was er wahrnahm war Schwere. Nach den Monaten in Raum, von den kurzen Beschleunigungs- und Verzögerungsphasen des Schiffes abgesehen, war es das erste was ihm auffiel, das Fehlen der Schwerelosigkeit. Dann erst bemerkte er, dass er in einem Bett lag. Vorsichtig öffnete er seine Augen. Mit dem Licht kam auch das Empfinden für die Geräusche zurück. Geschäftigkeit und Licht erfüllte seine Umgebung. Viel Licht und viele Geräusche. Stimmen, menschliche Stimmen schälten sich langsam aus den vielfältigen Geräuschen. Dann kam die Erinnerung zurück. Das Andockmanöver, das Schiff und die Orbitalstation.
Er musste in der Med-Station liegen. Er versuchte sich aufzusetzen. Kein Problem. Nächster Versuch, Aufstehen. Wieder kein Problem. Ein Arzt eilte auf ihn zu.
„Wie geht es ihnen?“
„Ich glaube soweit gut. Mir ist wahrscheinlich einfach nur schwindelig geworden. Ich denke ich habe nicht ausreichend Übungen gemacht. Als dann die Bremsmanöver einsetzten und ich aufstand, war mein Kreislauf überlastet. Das war alles.“
„Hm, wir haben nichts Schwerwiegendes bei ihnen gefunden. Soweit scheint es also mit ihrer Erklärung übereinzustimmen.
Der Arzt schaute mit einem prüfenden Blick auf seine Diagnoseanzeige. Dann wieder zu seinem Patienten.
„Ok, ich sage ihnen was, ich gebe ihnen eine Passiergenehmigung und sie schauen nach dem Orbitaltransfer zur Erde bei einer Med-Station rein und lassen sich noch mal checken. Was meinen sie?“
„Klingt gut, würde ich sagen.“
„Gut, sie haben noch etwa 2,5 Stunden bis die Fähre zur Erde ablegt. Zeit genug, um die Formalitäten zu erledigen und mit ihrem Firmenkonsortium Kontakt aufzunehmen.“
„In Ordnung, besten Dank Doktor“
„Ich gebe ihnen noch ein kreislaufstabilisierendes Mittel und dann können sie gehen. Netter Anhänger übrigens, den sie da tragen.“
Einen Augenblick überlegte er was der Arzt meinte, dann griff er an seinen Hals.
„Altes Familienerbstück, von irgendeinem Urgroßonkel. Ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, glaube ich.“
Er warf einen kurzen Blick auf den abgewetzten Messinganhänger. Als er ihn von seiner Mutter bekam, wurde der Anhänger von einer silbernen Kette gehalten. Im Lauf der Zeit hatte er sie jedoch gegen eine Lederkordel ersetzt. Er fand damals, dass es besser zu dem alten Amulett passte.

Er saß in dem Passagierraum des Shuttles. Alles war ohne weitere Schwierigkeiten abgelaufen. Die Startsequenz war fast abgeschlossen und er beinahe wieder auf der Erde. Er freute sich auf ein ausgiebiges Bad und ein wenig Small Talk, bei dem man sein Gegenüber von Angesicht zu Angesicht und ohne Bildübertragung sprechen konnte.
„Meine Damen und Herren, wir werden in etwa 4 Stunden in den Niederlanden zur Landung ansetzen. Bis dahin werden sie in ihren Sitzen von der Automatik festgezurrt bleiben. Weiterhin ist es untersagt irgendwelche Gegenstände, gleich welcher Art aus ihren Taschen oder Verriegelungen, wie zum Beispiel Rettungswesten, zu lösen. Bitte entspannen sie sich und genießen sie den Flug.“
Er hatte den Orbitaltransfer schon unzählige Male gemacht, aber es gab immer wieder Leute, die unverbesserlich waren und mit Gegenständen hantieren. Bei dem Wiedereintritt in die Atmosphäre wurden sie zu Geschossen, die ein unkalkulierbares Risiko darstellten. Meistens waren es Wissenschaftler oder Privatpersonen, die sich nicht an die Sicherheitsbestimmungen hielten. Sie unterschätzten einfach die Gefahr, weil man in einen Personenpendler kaum etwas von der mehrfachen Schallgeschwindigkeit mitbekam. Anders als bei den Frachtern, die nur Güter transportierten. Eine leichte Turbulenz verriet ihm den Wiedereintritt in die Atmosphäre. Man hatte mit Absicht keine Sichtfenster in der Außenzelle des Pendlers vorgesehen, um den Passagieren das Aufglühen des Rumpfes zu ersparen. Allzu leicht entstand dabei Unruhe oder Panik. Die Turbulenz verstärkte sich zu einem Rumpeln. Das war ungewöhnlich, er bedauerte vorher nicht einen Blick auf das Wetterbild des Satelliten geworfen zu haben. Solche Schwingungen wie im Augenblick entstanden nur bei größeren Tiefdruckgebieten, wobei dann eher auf einen Transfer verzichtet wurde, als den Verlust eines Passagierschuttels zu riskieren. Mittlerweile wurde die Schwerelosigkeit von einem leichten Ziehen abgelöst. Ein Blick in die Runde verkündete ihm, dass die Passagiere hauptsächlich aus Personen mit wenig Erfahrung in solchen Unternehmungen bestanden. Unruhe kam auf. Er blieb weiterhin gelassen. Die Piloten im Orbitaltranfer gehörten zu den Besten. Nur mehrjährige Erfahrungen auf unterschiedlichen Schiffen erlaubten eine Bewerbung für den Dienst in einem Orbitalpendler. Und die Liste der Bewerbungen war lang, im Vergleich zu den angebotenen Posten.
Mittlerweile drangen die ersten Geräusche der beanspruchten Außenhülle in den Passagierraum. Ein Knacken und Krachen verkündete die Belastung, die durch die stark erhitzte ausgedehnte Außenzelle erzeugt wurde. In den Gesichtern konnte man die Anspannung und entstehende Panik sehen. Dann, mit einem letzten Ruck, ging der Pendler in seine Gleitphase über. Die Geräuschkulisse nahm ab und lediglich ein leichter Ozongeruch verriet die überstandenen Strapazen des Shuttles. Die Gespanntheit aus den Gesichtern der Menschen wich langsam wieder einer gesunden Gesichtsfarbe. Mittlerweile hatte sich auch die normale Erdschwere eingestellt und bei einigen war sogar ein schwaches Lächeln sichtbar. Er schaute auf seine Armbanduhr. Etwa 10 Minuten bis das Landemanöver begann. Ein leichtes Schlingern ließ ihn aufmerken. Sie mussten in eine weitere Unwetterzone eingetreten sein. Ein rascher Blick in die Runde verriet ihm, dass er bisher der einzige war, dem dies auffiel. Er griff mit beiden Händen zu seinen Armlehnen und wappnet sich vor den weiteren Unannehmlichkeiten. Die Maschine sackte mehrere 100 Meter durch. Mit einem heftigen Ruck fassten die Tragflächen wieder in der Atmosphäre. Einige der Passagiere schrien oder stöhnten auf. Ein heftiges Schütteln ging durch die Maschine und ein erneutes Durchsacken. Diesmal begleitet von einem Krachen. `Das ist nicht mehr normal´, dachte er noch. Dann mit einem Schütteln, sackte der Pendler erneut durch und prallte auf! Etwas schlug mit entsetzlicher Kraft auf seinem linken Arm ein. Er spürte wie sein Unterarm brach. Das letzte was er wahrnahm, war das Kreischen und Bersten von Metall. Dann wurde es still und dunkel um ihn.

*

Thomas Reifent erwachte schweißgebadet. Er wusste nicht mehr, ob er oder der Mann aus seinem Traum geschrien hatte. Er hatte noch nie einen Traum erlebt, der sich nicht um ihn drehte oder er wenigsten als Beobachter auftrat. Er schaute auf den Wecker. Es war erst 5:30 Uhr. Aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Also stand er auf und ging in das Bad. Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, um dem Traum zu entfliehen. Es half jedoch nicht viel. Als er in den Spiegel schaute, fiel sein Blick auf das Medaillon. Ohne jeden Zweifel, es war das gleiche messingfarbene Amulett wie im Traum. Nicht so abgewetzt, die Symbole mit schwarzer Farbe unterlegt aber ohne Frage das gleiche Medaillon! Ihm wurde schwindlig. Der Trauminhalt wurde wieder mit aller Macht gegenwärtig. Er klammerte sich an das Waschbecken, um den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren. Nach einer Weile ließ das Gefühl nach. Mit noch weichen Knien ging er in Küche um einen Kaffee zu trinken. Während das Kaffeewasser noch durchlief, überlegte er, wie er der Unwirklichkeit des Traumes entfliehen konnte.

Gleichmäßig verrichtete die Maschine ihre Arbeit. Der Motor war nach den gut 20 Kilometer warm und konnte jetzt einiges vertragen, dachte er. Er hatte die Auffahrt zur Autobahn erreicht und legte sich in die Kurve um auf den Beschleunigungsstreifen zu schwenken. Ein Blick zur Seite verriet ihm dass etwa auf gleicher Höhe ein Lkw fuhr. Er lächelte unter seinem Helm. Nichts war besser um dem Alltag oder unliebsamen Gedanken zu entfliehen als eine kurze Motorradtour. Mit dem Aufrichten aus der Kurve schaltete er einen Gang zurück und drehte den Beschleunigungsgriff nach hinten. Brachial erwachte der Motor aus seinem Dämmerzustand. Für einige Sekunden, als die plötzlichen Beschleunigungskräfte das Hinterrad nach vorne trieben, verlor das Vorderrad den Bodenkontakt. Er hatte das Gas genau dosiert. Das Vorderrad setzte sanft wieder auf den Asphalt auf. Der Lkw war verschwunden, irgendwo weit hinter ihm. Der Drehzahlmesser verriet ihm, dass er sich den 10000 Umdrehungen pro Minute näherte. Zeit zu schalten. Auch den nächsten Gang zog er voll aus. Die Landschaft flog an ihm vorbei. Als er in den letzten Gang schalteten wollte, näherte er sich der 180 km/h. Er zog den Kupplungshebel. Wieder durchfuhr ihn ein stechender Schmerz in dem linken Unterarm. Es dauerte nur Sekundenbruchteile, doch dabei verschaltete er sich und verlor die Kontrolle über die Maschine. Das Hinterrad blockierte und die Maschine stellte sich quer.
Bremsen hatte keinen Sinn mehr, die Beschleunigung trieb das Motorrad weiter quer zur Fahrbahn. Er versuchte verzweifelt die Maschine auf die Seite zu drücken. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung stieß er sich von der Maschine weg. Das Motorrad fing an sich zu überschlagen. Er selbst drehte und rutschte über den Asphalt. Er streckte seine Arme und Beine aus, um ein wenig Kontrolle über seine Richtung zu erlangen. Das letzte was er sah war die Leitplanke, die mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zukam. Er schloss die Augen.

*

Ein gleichmäßiges Piepsen sickerte in sein Bewusstsein. Wie einem lästigen Insekt das auf ihm zu kroch.
Piep!
`Geh weg!´
Piep!
Piep!
Piep!
`Nein, geh weg!´
Piep!
Lauter, es wurde immer lauter! Er versuchte zu schreien und riss die Augen auf. Nur ein Krächzen kam über seine Lippen, zugleich strömte weiches Licht auf ihn ein. Er war orientierungslos und versuchte sich zu erinnern. Jemand beugte sich über ihn. Er versuchte etwas zu sagen. Erneut kamen nur unverständliche Laute dabei heraus.
„Versuchen sie nicht zu reden und bleiben sie ruhig liegen. Sie hatten einen Unfall aber es kommt alles wieder in Ordnung.“
Er entspannte sich ein wenig und schloss erneut die Augen.
„Eine zeitlang stand es nicht gut um sie, aber nun sind sie über den Berg und bald auch wieder auf den Beinen.“
Immer noch wollte die Erinnerung nicht einsetzten. Auf seinem Brustkorb fühlte er die Kühle des Medaillons. Sonst war es warm. Dann, mit aller Macht, drängte das Erlebte in das Bewusstsein!
Das Amulett, der Traum, die Maschine und der Unfall!
`Mein Gott, wie bin ich an der Leitplanke vorbei gekommen? Leitplanken bedeuten immer Verstümmelung!´
Hastig versuchte er seine Finger und Zehen zu bewegen. Links, Rechts, wie immer. Er wurde wieder ruhiger und schloss für einen Moment die Augen.
„Guten Tag, ich bin Professor Demeer. Sie hatten großes Glück.“
Er öffnete wieder die Augen.
„Unser Med-Team hatte seine liebe Mühe sie wieder zurück zu den Lebenden zu holen. Sie hatten schwerste Verbrennungen, ihr linker Arm war ehr abgetrennt als dran, ihr Brustkorb eingedrückt und beide Beine mehrfach mit komplizierten Splitterbrüchen gebrochen.
Ich verstehe einfach nicht, wer die Genehmigung zum Wiedereintritt des Orbiters erteilt hatte. Wahrscheinlich hat ein wichtiges Vorstandsmitglied eine hübsche Summe springen lassen.
Übrigens, ihr Firmenkonsortium hat sich mehrfach nach ihrem Zustand erkundigt. Alle erforderlichen Behandlungen wurden genehmigt und die entstanden Kosten anstandslos beglichen. Wir hatten sie vier Wochen in der Hiebernation. Gratuliere, soviel Glück hat nicht jeder, Herr Reifent.“
Er schloss die Augen. Für einen Augenblick war alles verwirrend. Dann folgte Klarheit!
`Natürlich, bezahlen sie alles, die finden kaum Leute, die diese verfluchte Route fliegen.