
Ellen hat ihr Top gegen eine weiße Bluse getauscht und wir kommen doch noch zur Party. Auch die Party ist zu Fuß leicht zu erreichen. Von Ellens Wohnung in der Hunoldstraße, ein wenig abseits der Hamelner Innenstadt, sind es nur 15 Minuten zu der Wettorstraße, vor der wir stehenbleiben. Wir beide suchen die Nähe des Anderen, allerdings glaube ich aus unterschiedlichen Gründen. In meinem Fall gibt sie mir zusätzlichen Halt, weswegen ich mir ein wenig mies vorkomme. Schließlich haben wir gerade zusammengefunden und da soll ein anderes Gefühl im Vordergrund stehen und nicht reiner Eigennutz.
Ellen klingelt und eine quirlige Stimme fordert sie auf raufzukommen. Als wir die Haustür öffnen, können wir die Beats des Techno hören, die sich mit Gelächter und Gejohle vermischen. An der Wohnungstür wartet eine kleine, leicht Übergewichtige, deren lockigen, roten Haare sie wie eine Mähne umgeben. Als sie Ellen erblickt, quietschen beide auf und stürmen aufeinander zu. Nachdem sie sich begrüßt haben, stellt Ellen mich vor.
„Sybille, das ist Laurent.“
„Hi Laurent, ich bin Sybille. Kommt rein und mischt euch unter das Volk.“
Sybille und Ellen fangen an zu tratschen und gehen in das Wohnungsinnere. In der Küche sind die Getränke aufgebaut. Ein 20l Fass Bier steht auf der Küchenzeile und einige harte Getränke sind drum herum verteilt. Auf einem Tisch stehen Knabbereien. Die Beiden werden sofort von einigen Gästen vereinnahmt. Ich sehe ein Glas und versorge mich erstmal selbst, um nicht herumzustehen, mit etwas Wasser. Alkohol vermeide ich seit über einem Jahr, um die Anfälle nicht zu begünstigen. Danach bleibt mir nur die Gäste in der Wohnung zu mustern. Ab und an nippe ich an dem Glas.
„Du bist mit Ellen hier, stimmt’s?“
Neben mich hat sich eine Frau gestellt. Sie ist etwa Ende 20 und knapp 1,70m groß. Sie ist sehr dürr und hat kurze schwarze Haare.
„Ja, ich bin Laurent.“
„Freut mich Laurent, ich bin Melissa. Ich sehe dich heute das erste Mal. Na ja, Ellen und ich arbeiten in dem gleichen Cafe, deshalb kenne ich fast alle ihre Bekannten.“
„Hey ihr beiden Hübschen, verpasse ich hier gerade einen Flirt?“
„Hey Andreas, das ist Laurent. Er ist mit Ellen hier.“
„Mit Ellen?“
Er zieht eine Augenbraue hoch. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er mich damit meint. Als wenn er versucht unseren Beziehungsstatus einzuschätzen. Er ist eine Handbreit größer als Ellen, beziehungsweise kleiner als ich. Seine Füße stecken in Boots und die weite schwarze Cargohose hängt ein wenig an der schmalen Hüfte. Der Oberkörper ist beeindruckend muskulös und passt aber nur mäßig zu der Gesamterscheinung. Seine braunen Haare sind strubbelig, was scheinbar gewollt ist und seine heitere Natur unterstreicht. Auch seine Gesichtszüge sind eher feminin fein und seine Augen sind hell und leuchtend. Um weiteren Fragen zu meiner Person oder der Beziehung mit Ellen zu vermeiden, lenke ich das Thema auf die Party.
„Nette Party, läuft hier oft so was?“
„Jep, ist ein bisschen Creepy, dass du danach fragst. Sybille hat die Wohnung vor etwa anderthalb Jahren bezogen. Aber sie ist selten allein hier und sucht mittlerweile wieder eine andere Wohnung. Sie meint hier ist es unheimlich.“
Andreas schaut mich mit gefurchter Stirn erwartungsvoll an. Ich komme seiner Aufforderung nach.
„Weshalb, spukt es hier?“
„Sicher hast du von dem Zugunglück hier im Bahnhof gehört? Das Mädchen, das damals unter den Verunglückten war, wohnte hier.“
Mir wird eiskalt und ich merke wie mein Puls in die Höhe schießt.
„Du meinst, die Frau hat hier in dieser Wohnung gelebt?“
„Hm, soviel ich weiß, studierte sie in Hannover, aber ja, hier war ihre Wohnung.“
„Was weißt du noch über sie?“
„Sybille weiß ein wenig mehr. Ihr Name war Aurora Engel und sie studierte in Hannover. Pendelte wohl täglich zwischen der Uni und ihrer Wohnung. Das ist, was ich weiß.“
Jetzt mustert mich auch Melissa.
„Stehst du auf Horrorgeschichten oder warum das rege Interesse an der Toten?“
„Nein, ich war in dem Zug.“
„Scheiße, nicht dein Ernst?“
Andreas blickt mich an als würde ich ein Geist sein.
„Du bist der, den sie aus den Trümmern gezogen haben? Der Zug muss noch irre schnell gewesen sein, so wie das auf den Zeitungsfotos aussah.“
Melissa kneift die Lippen aufeinander und erwartet meine Antwort. Ich überlege, was ich darauf antworten soll. Ich kenne zwei unterschiedliche Versionen. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass die Variante mit der Explosion meiner Fantasie entsprungen ist. Aber diese Situation lässt mich wieder zweifeln. Wie wahrscheinlich ist ein solcher Zufall?
„Ich weiß es nicht mehr. Ich habe unterschiedliche Erinnerungen an das Unglück.“
„Du meinst, durch den Schock kannst du dich nicht mehr richtig erinnern was passierte?“
„Nein, ich meine, ich erinnere mich an noch ein anderes Unglück als in der Zeitung beschrieben.“
Melissa kneift jetzt neben ihren Lippen auch noch die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
„Schön, dass ihr euch schon kennengelernt habt.“
Ellen und Sybille schieben sich Arm in Arm in unsere Runde. Beide sind ausgelassen und genießen die Party sichtlich.
„Mensch Sybille, Laurent war auch in dem Zug. Wie das Mädchen, das hier in deiner Wohnung lebte!“
„Andreas, du bist ein Idiot!“
Melissa harkt Andreas unter und zerrt ihn von uns weg. Bevor sie in den nächsten Raum verschwinden, schaut sie über die Schulter und ruft:
„Ellen, meldet euch morgen unbedingt bei mir.“
Mit der Ausgelassenheit ist es erstmal vorbei. Ellen rollt mit den Augen und Sybille ist sichtlich pikiert.
*
Ich folge den Erhebungen und Senken ihres Halses. Den feinen Ästelungen ihrer Blutgefäße auf ihrer blassen Haut. Während ich mit meinen Fingern die Landkarte auf ihren Körper nachzeichne, geht ein leichtes Beben durch ihren Körper. Ihre Augen sind geschlossen und der Kopf ruht seitlich auf ihren hellen Haaren. Die Hände verweilen auf beiden Seiten neben ihrem Kopf.
„Du wusstest wer die Wohnung vor Sybille bewohnte?“
„Ja.“
„Es war auch kein Zufall, dass wir auf der Party waren?“
„Nein.“
Ich verharre an ihrem Bauchnabel und lege die flache Hand auf ihr Becken.
„Sybille wusste von mir?“
„Ja.“
Ellen öffnet die Augen und dreht den Kopf zu mir. Einige Momente schauen wir einander in die Augen.
„Ich wollte die Party abwarten. Danach hätten wir über die Sache sprechen können.“
„Hm. Warum hast du mich nicht vorher gefragt?“
„Bist du sauer?“
Ich horche in mich hinein. Bin ich sauer? Nein, ein wenig enttäuscht. Nicht, dass ich anders gehandelt hätte.
„Nein, eigentlich nicht. Ich fühle mich ein wenig überfahren, das ist alles.“
Ich streiche mit der Hand über ihre Haare, folge ihren Gesichtszügen, über die Wange zum Kinn.
„Was will Melissa, hast du eine Ahnung?“
„Nein, keine Ahnung. Aber es schien ihr wichtig.“
Sie dreht sich auf die Seite und stützt ihren Kopf auf den angewinkelten Arm, so dass wir uns anschauen.
„Wir müssen nicht zu ihr gehen, wenn du nicht willst.“
Ich sinniere, was ich gestern alles über die Unbekannte erfahren habe. Ihr Name ist Aurora Engel, sie wohnte in der Wettorstraße und sie studierte in Hannover.
Irgendetwas aber passt nicht zu den Informationen, die ich gerade zusammenfasse. Wenn sie doch in Hameln wohnte, warum ist sie nicht mit mir ausgestiegen? In dem Waggon waren acht Personen, neun mit mir. Aber ich bin sicher, dass ich als einziger das Abteil in Hameln verließ.
„Einen Cent für deine Gedanken.“
Einer Ahnung folgend:
„Ich denke wir sollten zu Melissa gehen. Es muss was bedeuten, dass ich damit nicht abschließen kann, dass ich immer wieder auf Details stoße.“
Ellen seufzt auf.
„Melissa weiß aber nicht mehr über die Sache als Sybille.“
„Wir können ja danach noch zu Sybille. Stört es dich, wenn ich kurz dusche?“
„Ich dachte, wir bleiben noch eine Weile?“
„Ich brauche ein Frühstück.“
„Ich kann schnell etwas machen.“
„Mach dir keine Umstände, ich lade dich ein.“