
Ich betrachte den Zug, ohne ihn wirklich zu sehen. Das Wetter hat sich eine kurze Regenpause gegönnt, nur um weitere dunkle Wolkenbänke zusammen zu treiben. Der Tag hat kalt und feucht begonnen und nichts deutet darauf hin, dass sich daran etwas ändern wird. Noch etwa zwei Stunden, bis das Zwielicht des Tages der Dunkelheit der Nacht weichen wird.
Es steigt eine Gruppe von Leuten in den Zug. Mein Blick folgt ihnen. Das Innere des Zuges ist schon erleuchtet und den Fahrgästen, die verstreut in den Wagon sitzen, sieht man die Behaglichkeit der Abteile an. Einige haben noch ihre Berufskleidung an, andere sind auf dem Weg zu der nächsten größeren Stadt und wieder anderen ist anzusehen, dass sie verreisen.
Drei Minuten bis zur Abfahrt. Am Himmel zeichnet sich der nächste Regenguss ab. Ich nehme meine Tasche und richte mich von der Bank auf, froh ebenfalls in den trockenen, warmen Zug zu gelangen. Zeitgleich mit dem Betreten des Innenraumes setzt der Regen ein.
Ich gehe den Gang entlang zu der Bank, die ich für mich ausgesucht habe. Mit einem sanften Ruck fährt der Zug an. Es sind nicht viele Reisende in dem Waggon. Insgesamt mache ich weitere acht Personen aus. Einige lesen, andere blicken aus dem Fenster und zwei scheinen eingenickt zu sein.
Ich schaue auf die Kulisse, die immer schneller werdend an mir vorüber zieht.
In einem kleineren Ort erhasche ich einen Blick in eine Glasscheibe in einem Haus, an dem der Zug vorüberfährt. Es ist das Licht einer Straßenlaterne, das sich darin widerspiegelt. Das Bild bleibt in meinem Gedächtnis haften. Immer wieder spult die Szene in meinem Kopf ab. Längst haben wir die Stelle passiert und sind an dem Ort vorbei. Hartnäckig hält sich das Bild. Bald erkenne ich was, mich stört. In dem Bild aus meinem Gedanken vermisse ich das Original, das sich in dem Fenster spiegelt. Ich muss es Buchstäblich aus dem Gedächtnis gelöscht haben.
Nach einer Weile bemerke ich eine junge Frau im Gang schräg mir gegenüber. Ihre brünetten, langen Haare fallen zu beiden Seiten ihres Gesichtes auf die Seiten in einer gelben Mappe, die sie mit ihren schmalgliedrigen Fingern hält. Ein weiter Parka, der sie wie ein Kokon umgibt, sie einhüllt wie ein zerbrechliches Gut. Ihre Beine schauen eine Handbreit aus der weiten Stoffhose und enden in flachen Sneakers. Sie scheint versunken und sehr in die Lektüre konzentriert. Ich schätze ihr Alter auf Anfang Zwanzig. Mein Blick verweilt lange auf sie. Die Mappe sieht aus als wenn es Aufzeichnungen aus einem Studiengang sind. Ab und an kann ich eine Reaktion beobachten, die Missbilligung oder Erstaunen ausdrückt. Plötzlich senkt sie die Mappe und ich kann deutlich erkennen, dass sie zögerlich aus der Lektüre in die wirkliche Umgebung zurückkehrt. Sie scheint verärgert über die Störung. Ihr Blick hebt sich ein wenig und sie sieht mich direkt an. Ich blicke in dunkle, braune, fast schwarze Augen. Mir wird klar, dass ich die Ursache ihrer Unterbrechung bin. Durch meine Aufmerksamkeit habe ich bei ihr ein Unbehagen ausgelöst, welches sie in ihrer Konzentration stört. Wir blicken uns immer noch an und ich kann beinahe die Frage hören, die ihr auf den Lippen liegt. „Warum störst du mich in meiner Konzentration?“. Verlegen schaue ich zum Fenster. Mein Puls hat sich beschleunigt durch die Erkenntnis, wie unhöflich meine Neugierde ist. Habe ich doch sehr lange eine Unbekannte angestarrt und scheinbar unverfroren gemustert. Ich versuche abzuschätzen wie groß der Zeitraum wohl gewesen ist. Der Zug ist noch immer gut fünf Minuten vom nächsten Bahnhof entfernt. Die Fahrzeit beträgt etwa acht Minuten und ich habe schätzungsweise drei Minuten über das Phänomen mit der Spiegelung nachgedacht. Nein, das ist unmöglich! Wenn dem so ist, bleiben nur Sekunden, in denen ich auf die Frau aufmerksam geworden bin. Mein Zeitgefühl muss mich narren.
Irritiert suche ich wieder den Blickkontakt mit der jungen Frau. Sie schließt die rote Mappe gerade und bindet mit zwei losen Bandenden die offenen Seiten zusammen. Hat mir mein Zeitgefühl erneut einen Streich gespielt? Ich blicke aus dem Fenster. Nein, der Zug ist immer noch viereinhalb Minuten vom Bahnhof entfernt. Ich sehe wieder zu der Frau, die noch immer mit dem Verstauen der roten Mappe beschäftigt ist. Zwischendurch streicht sie sich ihre Haare aus dem Gesicht.
Es ist weder die Bewegung noch die Körperhaltung, die mich fesselt. Und doch hält mich ihr Antlitz in ihrem Bann. Dann lehnt sie sich zurück und blickt aus dem Fenster. Deutlich meine ich die Sehnsucht zu spüren, mit der ihr Blick die vorbei huschende Landschaft streift.
Innerlich kämpfe ich mit mir, ob ich sie anspreche. Meinen Blick zieht sie immer wieder magisch zu sich. Ich greife zu meiner Tasche und will aufstehen.
„Hallo, ist hier noch ein Platz frei?“
Ein junger Mann steht vor der Frau und spricht sie an. Ich blicke an seinem Rücken vorbei und warte auf die Reaktion der Frau. Sie blickt auf und lächelt den Mann an. Wieder streicht sie sich durch die Haare.
„Natürlich,…bitte“.
Der Mann setzt sich ihr gegenüber und stellt seine Tasche auf den Nebensitz. Die Frau tut es ihm gleich und besetzt den noch freien Platz neben ihr, mit ihrer Studientasche.
Ich lasse meine Tasche an ihren Platz zurückgleiten.
„Es ist ein scheußliches Wetter, aber der Regen hat auch etwas Beruhigendes, finden sie nicht auch?“
„Ich mag den Regen, aber ich mag es nicht nass zu werden“.
Der junge Mann lacht auf. Es ist ein ansteckendes Lachen. Das Lächeln der Frau wird ein wenig verlegen, dabei blickt sie kurz zu Boden und sieht dann den Mann wieder an. Ihre Finger spielen an dem Reißverschluss ihres Parkas.
„Hat man so etwas schon gehört? Ehrlich, ich mag es auch nicht durchgeregnet zu werden. Auch kenne ich niemanden, dem so etwas gefällt! Dabei habe ich gleich noch den ganzen Weg durch die Stadt vor mir“.
„Ja, bei dem Gedanken daran ohne einen Schirm durch den Regen zu müssen, wünschte man sich schon zu Hause zu sein. Ich hatte mir heute Morgen einen Schirm eingesteckt, aber ihn dann in der Uni vergessen.“
Der Mann wirft seinen Kopf zurück und lacht abermals. Diesmal fällt die Frau in das Lachen des Mannes ein.
„Dann kann man ja nur hoffen, dass der Regen aufhört und wir beide trockenen Fußes nach Hause kommen. Darf man fragen, was sie studieren?“
„Nun, eigentlich studiere ich nicht mehr. Ich habe heute meine Arbeit abgegeben und will jetzt die Ferien nutzen, um mal auszuspannen.“
Der Zug fährt in den nächsten Bahnhof ein. Ein Schaffner steigt ein und fängt an, bei den Reisenden die Fahrausweise zu kontrollieren. Als er bei der Frau und dem Mann ankommt, geht er, ohne zu zögern an den Beiden vorüber, um mein Ticket zu entwerten. Vielleicht liegt es daran wie ich seine Tätigkeit gemustert habe, so dass er glaubt einen Fahrgast ohne Fahrschein erkannt zu haben. Jedenfalls geht er anschließend, nachdem er sich vergewissert hat, dass alles ordnungsgemäß ist, ohne sich umzusehen oder anzuhalten durch das Abteil in das Nächste.
Der Zug hat wieder Fahrt aufgenommen und fährt weiter seinem nächsten Ziel entgegen, meinem Ziel. Das Gespräch der Beiden geht in der Geräuschkulisse des Zuges unter und ich treibe gedankenlos in den Eindrücken der vorbeihuschenden Motive jenseits des Zugfensters. Als die Geschwindigkeit sinkt, weiß ich nicht einzuordnen wie viel Zeit vergangen ist. Ich nehme meine Tasche und Jacke und gehe langsam zum Ausgang. Dort warte ich an der Ausgangstür, bis der Zug fast steht und drücke dann auf den Öffner. Der Button leuchtet rot auf und signalisiert, dass meine Anforderung bearbeitet wird. Sekunden nach dem Halt des Zuges öffnet sich die Tür und ich trete ins Freie. Ich überquere den Bahnsteig und strebe in die Unterführung, die unter die Gleise zur Bahnhofshalle hinabführt.
Meine Welt zersprengt in tausende Fragmente! Ohrenbetäubende Geräusche, huschende Bilder, sengende Hitze und verzerrende Bilder stürzen auf mich ein. Etwas Gewaltiges drückt mich vorwärts und wirft mich die Treppe hinunter in den Tunnel. Der Geruch nach Feuer und Rauch hüllt mich in eine dunkel werdende Welt.
*
„Hey, hey, bleib bei mir! Nicht wieder die Augen schließen!“
Gott, schmerzte meine Schulter! Nein nicht die Schulter, alles von der Schulter bis zu den Fingern.
„Gut, du hörst mich! Mach die Augen auf, komm schon, öffne deine Augen.“
„Gott, es tut so weh.“
„Ich weiß, ich weiß. Gleich kommt der Arzt. Alles wird gut.“
Der Rauch ist immer noch da. Er macht das Atmen schwer. Ich will meine Augen nicht öffnen. Die Hintergrundgeräusche dringen zu mir durch. Aufgeregte Rufe und Schreie sowie das Brausen von Flammen schlagen überdeutlich auf mich ein. Zu den Schreien und dem Prasseln mischt sich eine Sirene, noch eine, noch viele. Mein zersprengtes Weltbild fügt sich. Irgendetwas Furchtbares muss sich ereignet haben. Etwas, was mein Bewusstsein mit aller Macht von sich schiebt.
„Hier! Wir brauchen einen Arzt! Hierher!“
Jemand fasst an meine Schulter und ich bin wieder weg…